Draußen auf dem Korridor wollte Warren wissen, warum man sie zum Töpfeschrubben geschickt hatte.
»Ich sagte doch, ich weiß es nicht mehr«, fuhr sie ihn an und warf einen Blick nach hinten in den menschenleeren Flur. »Was soll das eigentlich?«
Warren zuckte die Achseln. »Ich wollte nur ein wenig Spazierengehen.« Er überprüfte den Flur selbst, dann warf er ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich dachte, vielleicht möchte die Prälatin Schwester Simona einen Besuch abstatten.«
Verna zögerte. Schwester Simona befand sich seit Wochen in einem Zustand geistiger Verwirrung — es hatte etwas mit Träumen zu tun — und war in einem abgeschirmten Zimmer untergebracht worden, damit sie sich selbst oder einem Unschuldigen nichts antun konnte.
Warren beugte sich zu ihr und flüsterte: »Ich habe ihr vorhin bereits einen Besuch abgestattet.«
»Warum?«
Warren deutete mit dem gestreckten Finger mehrmals auf den Fußboden. Die Gewölbe. Er meinte die Gewölbe. Sie sah ihn stirnrunzelnd an.
»Und wie ging es der armen Simona?«
Warren sah nach rechts und links in den Gang, als sie an eine Kreuzung kamen, schaute er sich noch einmal um. »Man wollte mich nicht zu ihr lassen«, raunte er.
Draußen prasselte der Regen in Strömen nieder. Verna zog das Tuch über ihren Kopf und lief geduckt hinaus in den Wolkenbruch, sprang über Pfützen hinweg, versuchte auf Zehenspitzen über die Trittsteine im durchnäßten Gras zu balancieren. Gelbes Licht aus den Fenstern flackerte in den Pfützen. Die Wachen am Tor zum Hof der Prälatin verbeugten sich, als sie und Warren vorübertrabten und auf einen überdachten Laubengang zuhielten.
Unter dem niedrigen Dach schüttelte sie das Wasser von ihrem Tuch und drapierte dieses sodann um ihre Schultern, während die beiden wieder zu Atem kamen. Warren schüttelte ebenfalls den Regen von seinem Gewand. Die mit Bögen überspannten Seiten des Laubenganges waren nur durch ein offenes, dicht mit Efeu überwuchertes Gitterwerk geschützt, doch der Regen wurde nicht vom Wind getrieben, daher war es hier durchaus trocken. Sie spähte hinaus in die Dunkelheit, sah aber niemanden. Bis zum nächsten Gebäude, dem gedrungenen Krankenrevier, war es noch ziemlich weit.
Verna ließ sich auf eine Steinbank fallen. Warren hatte schon loslaufen wollen, setzte sich aber zu ihr. Es war kalt, und es tat gut, seine Wärme neben sich zu spüren. Der Geruch von Regen und feuchter Erde war nach dem langen Stubenhocken erfrischend.
Verna war es nicht gewohnt, kaum nach draußen zu kommen. Sie war gerne an der frischen Luft, fand, daß der Erdboden ein gutes Bett, die Bäume und Felder ein feines Büro abgäben, aber dieser Abschnitt ihres Lebens war jetzt vorbei. Gleich vor dem Arbeitszimmer der Prälatin gab es einen Garten, doch sie hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, ihren Kopf aus der Tür zu stecken und ihn sich anzusehen.
In der Ferne war das unablässige Donnergrollen der Trommeln zu hören — wie der Herzschlag der Verdammnis.
»Ich habe gerade mein Han benutzt«, meinte er schließlich. »Ich habe nicht gespürt, daß jemand in der Nähe ist.«
»Aber die Anwesenheit einer Person mit Subtraktiver Magie kannst du spüren, ja?« flüsterte sie.
Er hob im Dunkeln den Kopf. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«
»Was hat das zu bedeuten, Warren?«
»Glaubt Ihr, wir sind nicht allein?«
»Woher soll ich das wissen?« fauchte sie ihn an.
Er sah sich erneut um und schluckte. »Also, ich habe in der letzten Zeit eine Menge gelesen.« Er deutete auf die Gewölbekeller. »Ich dachte nur, wir sollten Schwester Simona einen Besuch abstatten.«
»Das hast du schon einmal gesagt. Aber noch immer nicht, warum.«
»Einige der Dinge, die ich gelesen habe, hatten mit Träumen zu tun«, sagte er dunkel.
Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen, konnte aber nur seinen dunklen Schatten erkennen. »Simona hat schon seit geraumer Zeit Träume.«
Er hatte seinen Oberschenkel an ihren gedrückt. Er zitterte vor Kälte. Wenigstens glaubte sie, daß es die Kälte war. Bevor sie merkte, was sie tat, hatte sie den Arm um ihn gelegt und seinen Kopf an ihre Schulter gezogen.
»Verna«, stammelte er, »ich fühle mich so allein. Ich habe Angst, mit jemandem zu sprechen. Ich habe das Gefühl, jeder beobachtet mich. Ich habe Angst, jemand könnte mich fragen, was ich studiere, und warum, auf wessen Anordnung. Ich habe Euch in drei Tagen nur ein einziges Mal gesehen, und sonst gibt es niemanden, mit dem ich reden könnte.«
Sie tätschelte ihm den Rücken. »Ich weiß, Warren. Ich wollte auch mit dir sprechen, nur hatte ich soviel zu tun. Es gibt soviel Arbeit.«
»Vielleicht haben sie Euch die Arbeit gegeben, um Euch zu beschäftigen und sich Euch vom Leib zu halten, während sie ihren … Geschäften nachgehen.«
Verna schüttelte in der trüben Dunkelheit den Kopf. »Kann sein. Ich habe genauso Angst wie du, Warren. Ich weiß nicht, wie man sich als Prälatin verhält. Ich habe Angst, den Palast der Propheten in den Ruin zu treiben, wenn ich nicht tue, was nötig ist. Ich habe Angst, Leoma, Philippa, Dulcinia und Maren etwas abzuschlagen. Sie versuchen mich in meiner Rolle als Prälatin zu beraten, und wenn sie wirklich auf unserer Seite stehen, dann ist ihr Rat ehrlich gemeint. Es könnte ein großer Fehler sein, ihn nicht anzunehmen. Wenn die Prälatin einen Fehler macht, müssen alle dafür zahlen. Wenn sie nicht auf unserer Seite stehen, nun, die Dinge, die sie von mir verlangen, scheinen niemandem zum Schaden gereichen zu können. Wieviel Schaden kann man schon anrichten, wenn man Belege liest?«
»Es sei denn, man will Euch damit von etwas Wichtigem ablenken.«
Sie strich ihm noch einmal über den Rücken, löste sich dann von ihm. »Ich weiß. Ich werde versuchen, häufiger mit dir ›spazierenzugehen‹. Ich glaube, die frische Luft tut mir gut.«
Warren drückte ihre Hand. »Das freut mich, Verna.« Er stand auf und zupfte sein dunkles Gewand zurecht. »Sehen wir doch nach, wie es Simona geht.«
Das Krankenrevier war eines der kleineren Gebäude auf der Insel Drahle. Viele der gewöhnlichen Verletzungen konnten die Schwestern mit Hilfe ihres Han heilen, und Krankheiten, die die Kraft ihrer Gabe überstiegen, endeten nur allzu rasch mit dem Tod, so daß das Krankenrevier meist nur ein paar ältere und gebrechliche Leute vom Personal beherbergte, die ihr Leben lang im Palast der Propheten gearbeitet hatten und jetzt niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Auch die Verrückten sperrte man hier ein. Für Krankheiten des Geistes war die Gabe von nur begrenztem Nutzen.
Nahe der Tür schickte Verna ihr Han in eine Lampe und nahm sie mit auf dem Weg durch die einfachen, gekalkten Korridore zu der Stelle, wo Simona, Warrens Worten nach, eingesperrt war. Nur wenige Zellen waren belegt. Das Schnarchen, Keuchen und Gehuste ihrer Bewohner hallte durch die schwach beleuchteten Flure.
Als sie das Ende des Korridors erreichten, in dem die Alten und Gebrechlichen untergebracht waren, mußten sie drei Türen passieren, die jeweils mit mächtigen Netzen verschiedener Zusammensetzung abgeschirmt waren. Schilde konnten allerdings von jemandem, der die Gabe besaß, durchbrochen werden, selbst wenn er verrückt war. Die vierte Tür war deshalb aus Eisen — mit einem massiven, von einem fein gesponnenen Schild geschützten Bolzen, der jeden Öffnungsversuch mit Magie von der anderen Seite verhindern sollte. Je mehr Kraft man anwendete, desto fester hielt er. Drei Schwestern hatten ihn gemeinsam angebracht, daher konnte er nicht von einer alleine auf der anderen Seite aufgebrochen werden.
Zwei Wachen nahmen Haltung an, als sie und Warren um die Ecke bogen. Sie verneigten die Köpfe, gaben die Tür aber nicht frei. Warren grüßte sie gutgelaunt und bedeutete ihnen mit einer flüchtigen Handbewegung, den Riegel zu öffnen.
»Tut uns leid, mein Sohn, aber hier darf niemand rein.«
Mit Feuer in den Augen schob Verna Warren zur Seite. »Ach, wirklich, mein ›Sohn‹?« Er nickte, seiner Sache sicher. »Und wer hat dir diese Anweisung gegeben?«
»Mein Kommandant, Schwester. Wer ihm die Anweisung erteilt hat, weiß ich nicht, aber es muß eine Schwester von beträchtlicher Machtbefugnis sein.«