Auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten. »Der Kaiser?«
»Ja«, sagte Warren. »Kaiser Jagang.«
Mit einem wilden Schrei sprang Simona in die Ecke. Sie brüllte wie am Spieß und schlug mit den Händen um sich. Verna war sofort bei ihr, versuchte, ihre Arme festzuhalten und sie zu beruhigen.
»Simona, bei uns bist du in Sicherheit. Was ist?«
»Das ist er!« kreischte sie. »Jagang! So lautet der Name des Traumwandlers! Laßt mich gehen! Bitte, laßt mich gehen, bevor er kommt!«
Simona riß sich los, taumelte wild durch die Zelle und jagte ihre Lichtblitze nach allen Seiten. Glühenden Krallen gleich kratzten sie die Farbe von der Wand. Verna und Warren versuchten, Simona zu beruhigen, versuchten sie einzufangen, sie aufzuhalten. Als Simona keinen Weg aus der Zelle fand, ging sie dazu über, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Sie war eine zierliche Frau, aber sie schien die Kraft von zehn Männern zu besitzen.
Am Ende war Verna gezwungen, mit größtem Widerwillen den Rada’Han zu benutzen, um die Oberhand zu gewinnen.
Warren heilte Simonas blutende Stirn, nachdem sie sich beruhigt hatte. Verna erinnerte sich an einen Bann, den man ihr beigebracht hatte, um ihn bei frisch im Palast eingetroffenen Burschen einzusetzen, wenn ihnen die Trennung von ihren Eltern Alpträume bereitete, einen Bann zur Besänftigung von Ängsten, der dem verängstigten Kind einen traumlosen Schlaf ermöglichte. Verna umfaßte den Rada’Han mit beiden Händen und ließ einen Strom ihres Han in Simona hineinfließen. Schließlich beruhigte sich ihr Atem, sie erschlaffte und schlief ein. Verna hoffte, daß ihr Schlaf traumlos war.
Mitgenommen lehnte sich Verna an die Tür, nachdem sie diese hinter sich zugemacht hatte. »Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?«
Warren schluckte. »Ich fürchte, ja.«
Das war nicht die Antwort, die Verna erwartet hatte. Mehr brachte er nicht hervor. »Nun?«
»Nun, ich bin nicht so sicher, ob die Schwester wirklich verrückt ist. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne.« Er zupfte verlegen an der Litze des Ärmels seines Gewandes. »Ich werde noch mehr lesen müssen. Kann sein, daß es nichts ist. Die Bücher sind kompliziert. Ich werde Euch wissen lassen, was ich finde.«
Verna küßte ihren Finger, spürte den noch immer ungewohnten Ring der Prälatin an den Lippen. »Geliebter Schöpfer«, betete sie laut, »beschütze diesen törichten jungen Mann, denn ich könnte ihm den Kopf abreißen und ihn mit meinen bloßen Händen erwürgen.«
Warren verdrehte die Augen. »Seht doch, Verna —«
»Prälatin«, verbesserte sie ihn.
Warren seufzte, schließlich nickte er. »Wahrscheinlich sollte ich es Euch sagen, aber so, wie ich es verstehe, handelt es sich um eine sehr alte und unklare Verzweigung. Die Prophezeiungen sind voll von unechten Verzweigungen. Diese hier ist mit einem zweifachen Makel behaftet — wegen ihres Alters und ihrer Seltenheit. Das macht sie verdächtig, auch ohne all das andere. In derart alten Büchern gibt es Überkreuzungen und Fehlleitungen im Überfluß, und die kann ich ohne monatelange Arbeit nicht nachprüfen. Einige der Verbindungen sind durch Dreifachverzweigungen verschlossen. Das Zurückverfolgen einer Dreifachverzweigung gleicht unechte Verzweigungen an den Ästen aus, und falls davon welche dreigeteilt sind, nun, dann müßte das Rätsel, das durch die geometrische Progression erzeugt wird auf die man stößt, weil die —«
Verna legte ihm die Hand auf den Unterarm, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Warren, das weiß ich doch alles. Ich kenne die Progression und Regression in ihrem Verhältnis zu beliebigen Variablen bei der Gabelung einer Dreifachverzweigung.«
Warren machte eine fahrige Handbewegung. »Ja, natürlich. Ich hatte vergessen, welch eine gute Schülerin Ihr wart. Ich habe wohl nur so dahergeredet.«
»Raus damit, Warren. Was an Simonas Worten macht dich glauben, sie sei vielleicht nicht ›im üblichen Sinne‹ verrückt?«
»Dieser Traumwandler, von dem sie sprach. In zwei der ältesten Büchern gibt es ein paar Hinweise auf einen ›Traumwandler‹. Diese Bücher sind in schlechtem Zustand, nicht viel mehr als Staub. Was mir aber Sorgen bereitet: vielleicht erscheint nur uns die Erwähnung des Traumwandlers wegen des hohen Alters der Bücher selten, denn wir besitzen nur diese beiden Texte, während sie in Wirklichkeit für die damalige Zeit alles andere als selten war. Die meisten Bücher aus jener Zeit sind verlorengegangen.«
»Wie alt sind die Bücher?«
»Über dreitausend Jahre.«
Verna zog eine Augenbraue hoch. »Aus der Zeit des Großen Krieges?« Warren bestätigte dies. »Was ist mit diesem Traumwandler?«
»Nun, das ist nicht leicht zu verstehen. Wenn davon die Rede ist, geht es weniger um eine Person, vielmehr um eine Waffe.«
»Eine Waffe? Was für eine Art Waffe?«
»Das weiß ich nicht. Der Zusammenhang spricht auch nicht unbedingt für einen Gegenstand, sondern mehr für ein Wesen, ein Gebilde. Es könnte allerdings auch eine Person sein.«
»Vielleicht ist es so gemeint, daß eine Person, die in irgend etwas besonders gut ist, wie zum Beispiel ein Meister der Klinge, oft voller Respekt oder Ehrfurcht als Waffe bezeichnet wird?«
Warren hob einen Finger. »Das ist es. Eine sehr gute Umschreibung, Verna.«
»Was sagen die Bücher darüber, was diese Waffe mit ihrem Können bewirkt?«
Warren seufzte. »Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, daß dieser Traumwandler irgend etwas mit den Türmen der Vergessenheit zu tun hatte, die die Alte und die Neue Welt voneinander getrennt und diese Trennung die vergangenen dreitausend Jahre über aufrechterhalten haben.«
»Willst du damit sagen, die Traumwandler haben die Türme erbaut?«
Warren beugte sich näher. »Nein, ich glaube, die Türme wurden errichtet, um sie aufzuhalten.«
Verna versteifte sich. »Richard hat die Türme zerstört«, sagte sie laut, ohne es zu wollen. »Was noch?«
»Das ist alles, was ich bis jetzt weiß. Selbst das, was ich Euch erzählt habe, sind größtenteils nur Mutmaßungen. Wir wissen nicht viel über die Bücher aus der Zeit des Krieges. Nach allem, was ich weiß, könnten es Legenden sein und keine Tatsachenberichte.«
Verna verdrehte die Augen zur Tür hinter ihr. »Was ich da drinnen gesehen haben, kam mir durchaus wirklich vor.«
Warren verzog das Gesicht. »Mir auch.«
»Was hast du gemeint, als du sagtest, sie sei nicht ›im üblichen Sinne‹ verrückt?«
»Ich glaube nicht, daß Schwester Simona wirre Träume hat und sich etwas einbildet. Ich glaube vielmehr, es ist etwas ganz Reales passiert, und dadurch ist sie so geworden, wie wir sie sehen. Die Bücher verweisen auf Fälle, in denen diesem ›Meister der Klinge‹ gewissermaßen ein Schnitzer unterlaufen ist, wodurch der Betreffende nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann — so als könnte sein Verstand nicht völlig aus einem Alptraum aufwachen, beziehungsweise die Welt verlassen, die ihn im Schlaf umgibt.«
»Für mich klingt das nach Wahnsinn — wenn man nicht mehr unterscheiden kann, was wirklich ist und was nicht.«
Warren drehte die Handflächen nach oben. Eine Flamme entzündete sich dicht über der Haut. »Was ist schon Wirklichkeit? Ich habe mir eine Flamme vorgestellt, und schon wird mein ›Traum‹ Wirklichkeit. Mein Geist im Wachzustand bestimmt mein Tun.«
Sie zupfte an einer ihrer braunen Locken und dachte laut nach. »Genau wie der Schleier die Welt der Lebenden von der Welt der Toten trennt, gibt es auch in unserem Verstand eine Barriere, die die Wirklichkeit von der Vorstellung und von den Träumen trennt. Mit Disziplin und Willenskraft kontrollieren wir das, was für uns Wirklichkeit ist.«
Sie sah plötzlich auf. »Beim Schöpfer, es ist diese Barriere in unserem Verstand, die uns daran hindert, unser Han im Schlaf zu gebrauchen. Ohne diese Barriere hätten wir im Schlaf keine geistige Kontrolle über unser Han.«
Warren nickte. »Wir haben aber Kontrolle über unser Han. Wenn wir uns etwas vorstellen, kann es Wirklichkeit werden. Doch das bewußte Vorstellungsvermögen ist den Einschränkungen des Intellekts unterworfen.« Er beugte sich zu ihr, seine blauen Augen bekamen etwas Stechendes. »Im Schlaf ist die Vorstellungskraft praktisch keiner dieser Einschränkungen unterworfen. Ein Traumwandler kann die Wirklichkeit verzerren. Und wer die Gabe besitzt, kann diese Verzerrung Wirklichkeit werden lassen.«