»Eine Waffe, allerdings«, sagte sie kaum hörbar.
Sie packte Warren am Arm und ging los, den Flur hinunter. So beängstigend das Unbekannte auch war, es war ein Trost, wenigstens einen Freund zu haben, der ihr half. Ihr drehte sich der Kopf vor lauter Zweifeln und Fragen. Sie war jetzt die Prälatin, es war ihre Aufgabe, Antworten zu finden, bevor der Palast von Unannehmlichkeiten heimgesucht wurde.
»Wer ist eigentlich gestorben?« erkundigte sich Warren schließlich.
»Die Prälatin und Nathan«, sagte Verna abwesend, denn dort war sie mit ihren Gedanken.
»Nein, für sie gab es das Begräbnisritual. Ich meine, außer den beiden.«
Verna wurde aus ihren Gedanken gerissen. »Außer der Prälatin und Nathan? Niemand. Seit einer ganzen Weile ist niemand mehr gestorben.«
Der Widerschein der Lampe tanzte in seinen blauen Augen. »Aus welchem Grund hat der Palast dann die Dienste von Totengräbern in Anspruch genommen?«
19
Richard schwang sich aus dem Sattel, landete auf dem festgetretenen Schnee im Hof vor den Stallungen und warf die Zügel einem wartenden Soldaten zu, während die Kompanie mit zweihundert Soldaten hinter ihm hereingaloppiert kam. Er gab seinem lahmen Pferd einen Klaps auf den Hals, als Ulic und Egan gleich hinter ihm müde von ihren Pferden stiegen. In der stillen Kälte des späten Nachmittags hingen die verwehenden Atemwolken der Soldaten und der Pferde wie Dampf in der Luft. Die schweigenden Männer waren niedergeschlagen und entmutigt. Richard war wütend.
Er zog einen dick gepolsterten Handschuh aus und kratzte gähnend seinen vier Tage alten Stoppelbart. Er war erschöpft, schmutzig und hungrig, aber hauptsächlich war er wütend. Die Fährtenleser, die er mitgenommen hatte, seien gute Leute, hatte General Reibisch ihm erklärt, und Richard hatte keinen Grund, das Wort des Generals anzuzweifeln. Aber so gut sie auch waren, sie waren nicht gut genug. Richard war selbst ein begeisterter Fährtenleser und hatte mehrere Male verräterische Spuren entdeckt, die die anderen übersehen hatten, doch ein zwei Tage anhaltender, wüster Schneesturm hatte die Arbeit unmöglich gemacht, und am Ende waren sie gescheitert.
Eigentlich hätte es gar nicht erst soweit kommen sollen, aber er hatte sich täuschen lassen. Seine erste kleine Herausforderung als Anführer, und er hatte sie verpfuscht. Er hätte dem Mann niemals trauen dürfen. Wieso glaubte er immer, die Menschen würden das Vernünftige anerkennen und das Richtige tun? Wieso dachte er immer, in den Menschen stecke etwas Gutes, was zutage treten würde, wenn man ihnen nur eine Chance gab?
Als sie zusammen mühsam durch den Schnee zum Palast stapften, dessen weiße Mauern und Türme im abendlichen Zwielicht einen dunklen Grauton annahmen, bat er Ulic und Egan, General Reibisch zu suchen und sich bei ihm zu erkundigen, ob es während seiner Abwesenheit zu weiteren Katastrophen gekommen sei. Die Burg der Zauberer schien ihn aus der Dunkelheit im Schatten der Berge zu beobachten, der Schnee dort oben lag wie ein dunkles, trübsinniges, stahlblaues Tuch um ihre granitenen Schultern.
Richard traf Fräulein Sanderholt im lärmenden Durcheinander der Küche inmitten der Schar ihrer Angestellten an und fragte sie, ob sie ihm und seinen beiden großen Bewachern vielleicht etwas zu essen besorgen könne — ein Stück trockenes Brot, ein Suppenrest, was auch immer. Sie sah, daß er nicht zum Plaudern aufgelegt war, drückte wortlos seinen Arm und erklärte ihm, er solle seine Füße hochlegen, sie werde sich darum kümmern. Also steuerte er ein kleines Lesezimmer unweit der Küchen an, um sich eine Weile hinzusetzen und auszuruhen, während er darauf wartete, daß die anderen zurückkehrten.
Berdine fing ihn vor der Tür zum Lesezimmer ab und baute sich vor ihm auf. Sie trug ihr rotes Leder. »Und wo, bitte, habt Ihr gesteckt?« fragte sie in eisigem Mord-Sith-Tonfall.
»Ich habe in den Bergen Phantomen nachgejagt. Haben Cara und Raina Euch nicht gesagt, wo ich hingehe?«
»Ihr habt mir nichts gesagt.« Ihre blauen Augen wichen nicht von seinem Gesicht. »Das ist es, was zählt. Ihr werdet nicht noch einmal davonlaufen, ohne mir zu sagen, wohin Ihr geht. Habt Ihr das verstanden?«
Richard spürte, wie ihm ein Schauder den Rücken hochkroch. Es war nicht zu überhören, wer hier das Sagen hatte: nicht Berdine, die Frau, sondern Herrin Berdine, die Mord-Sith. Und es war auch keine Bitte gewesen, sondern eine Drohung.
Richard gab sich einen Ruck. Er war müde, und sie hatte sich um Lord Rahl Sorgen gemacht. Seine Phantasie ging mit ihm durch. Was war nur los mit ihm? Wahrscheinlich hatte er ihr einen Schrecken eingejagt, als sie beim Aufwachen feststellen mußte, daß er fortgegangen war, um Brogan und seine Schwester, die Magierin, zu verfolgen. Sie hatten einen merkwürdigen Sinn für Humor, vielleicht war dies ihre Vorstellung von einem Scherz. Er zwang sich zu einem strahlenden Grinsen und beschloß, sie ein wenig zu beruhigen.
»Berdine, Ihr wißt, daß ich Euch am liebsten mag. Ich habe die ganze Zeit an nichts anderes gedacht als an Eure strahlenden blauen Augen.«
Richard machte einen Schritt in Richtung Tür. Plötzlich hatte sie den Strafer in der Faust. Sie stemmte seine Spitze an den gegenüberliegenden Rand des Türrahmens und versperrte ihm den Weg. So finster hatte er Berdine noch nie erlebt.
»Ich habe Euch eine Frage gestellt. Ich erwarte eine Antwort. Zwingt mich nicht, Euch noch einmal zu fragen.«
Diesmal gab es keine Entschuldigung für ihren Tonfall oder ihr Auftreten. Der Strafer befand sich genau vor seinem Gesicht und das nicht etwa zufällig. Zum ersten Mal erblickte er ihr wahres Mord-Sith-Wesen, den Menschen, den ihre Opfer kennengelernt hatten, ihren eigentlichen Charakter, der entstanden war durch ihre Unterweisung in Bösartigkeit — und der behagte ihm überhaupt nicht. Einen Moment lang sah er sie mit den Augen der gottverlassenen Opfer, die sie mit dem Strafer mißhandelt hatte. Niemand starb als Gefangener einer Mord-Sith einen leichten Tod, und niemand außer ihm hatte diese schwere Prüfung jemals überlebt.
Plötzlich bedauerte er, an diese Frauen zu glauben, verspürte er einen Stich, weil sie sein Vertrauen enttäuscht hatten.
Diesmal war es kein Schauder, sondern heiße Wut, die ihm in die Glieder fuhr. Er spürte, daß er kurz davor stand, etwas zu tun, was er vielleicht bedauern würde, und beherrschte augenblicklich seinen Zorn. Aber er merkte, daß der Zorn seinem wütenden Blick Kraft verlieh.
»Berdine, wenn ich eine Chance haben wollte, Brogan zu finden, mußte ich ihm sofort hinterherreiten, nachdem ich von seiner Flucht erfahren hatte. Ich habe Cara und Raina gesagt, wohin ich wollte, und habe auf ihr Beharren hin Ulic und Egan mitgenommen. Ihr habt geschlafen. Ich sah keinen Grund, Euch aufzuwecken.«
Sie rührte sich noch immer nicht. »Ihr wurdet hier gebraucht, Fährtenleser und Soldaten haben wir viele. Aber wir haben nur einen Anführer.« Die Spitze ihres Strafers zuckte herum und stoppte dicht vor seinen Augen. »Enttäuscht mich nicht noch einmal.«
Es kostete ihn all seine Willenskraft, ihr nicht den Arm zu brechen. Sie zog ihren Strafer zurück und stapfte davon.
Wieder in dem kleinen, dunkel getäfelten Zimmer, schleuderte er seinen schweren Fellumhang an die Wand neben dem schmalen offenen Kamin. Wie konnte er nur so naiv sein? Diese Frauen waren Vipern mit scharfen Zähnen, und er hatte zugelassen, daß sie sich gemütlich um seinen Hals schmiegten. Er war von Fremden umgeben. Nein, nicht von Fremden. Er wußte, was Mord-Siths waren. Er kannte so manches Verbrechen der D’Haraner. Er wußte ein paar der Dinge, die die Vertreter mancher Länder hier angerichtet hatten. Und doch war er so töricht anzunehmen, sie wären fähig, das Richtige zu tun, wenn man ihnen nur die Gelegenheit gab.