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Die Schwestern des Lichts hatten ihm erzählt, daß die Mriswiths gelegentlich den Hagenwald verließen und daß niemand, weder die Schwestern des Lichts — die Magierinnen waren — und nicht einmal Zauberer imstande waren, ihre Gegenwart wahrzunehmen oder jemals eine Begegnung mit ihnen überlebt hatten. Richard hatte sie spüren können, weil er als erster seit nahezu dreitausend Jahren mit beiden Seiten der Gabe geboren worden war. Wie konnte also Gratch wissen, wo sie waren?

»Konntest du sie sehen, Gratch?« Gratch deutete auf einige der Kadaver, so als wollte er sie Richard zeigen. »Nein, jetzt kann ich sie sehen. Ich meine vorher, als ich mich mit Fräulein Sanderholt unterhielt und du geknurrt hast. Konntest du sie da schon sehen?« Gratch schüttelte den Kopf. »Konntest du sie hören oder riechen?« Gratch legte nachdenklich die Stirn in Falten, seine Ohren zuckten, dann schüttelte er erneut den Kopf. »Woher wußtest du dann, daß sie da waren, bevor du sie sehen konntest?«

Das riesige Tier zog seine Brauen, dick wie Axtgriffe, zusammen und blickte Richard fragend von oben an. Er zuckte die Achseln. Sein Unvermögen, eine befriedigende Antwort zu geben, schien ihn zu verwirren.

»Soll das heißen, du konntest sie spüren, bevor du sie gesehen hast? Irgend etwas hat dir gesagt, daß sie da sind?«

Grinsend nickte Gratch, froh, weil Richard zu verstehen schien. Aus einem ähnlichen Grund hatte Richard von ihrer Anwesenheit gewußt — er konnte sie spüren, im Geiste sehen, bevor er sie mit den Augen erblickte. Aber Gratch besaß die Gabe nicht. Wieso war er dazu fähig?

Vielleicht, weil Tiere Dinge eher spürten als Menschen. Wölfe wußten gewöhnlich, daß man da war, bevor man wußte, das sie da waren. Gewöhnlich bemerkte man ein Reh im Gebüsch erst dann, wenn es Reißaus nahm, weil es einen längst gewittert hatte, bevor man es selbst zu Gesicht bekam. Im allgemeinen hatten Tiere schärfere Sinne als Menschen, und Raubtiere mit die schärfsten. Und Gratch war ganz gewiß ein Raubtier. Dieser Sinn hatte ihm offenbar mehr genützt als Richard die Magie.

Fräulein Sanderholt war zum Fuß der Treppe heruntergekommen und legte Gratch eine bandagierte Hand auf den pelzigen Arm. »Gratch … danke.« Sie wandte sich Richard zu und senkte die Stimme. »Ich dachte schon, er würde mich auch umbringen«, gestand sie. Kurz sah sie zu den zerfetzten Leichen hinüber. »Ich habe gesehen, wie Gars das gleiche Menschen angetan haben. Als er mich packte, war ich überzeugt, er würde mich töten. Aber ich habe mich geirrt. Er ist anders.« Sie blickte erneut zu Gratch hoch. »Du hast mir das Leben gerettet. Danke.«

Gratch lächelte, und man konnte seine blutverschmierten Reißzähne in ihrer ganzen Länge sehen. Der Anblick verschlug ihr den Atem.

Richard blickte hinauf in das finster wirkende, grinsende Gesicht. »Hör auf zu grinsen, Gratch. Du machst ihr schon wieder angst.«

Seine Mundwinkel senkten sich, seine Lippen bedeckten die gewaltigen, gefährlich scharfen Reißzähne. Sein faltiges Gesicht nahm einen schmollenden Ausdruck an. Gratch hielt sich für liebenswert, und ihm erschien es nur natürlich, daß alle anderen ihn ebenfalls so betrachteten.

Fräulein Sanderholt strich Gratch über den Arm. »Schon gut. Sein Lächeln kommt vom Herzen und ist auf seine Art auch schön. Ich bin einfach … nicht daran gewöhnt, das ist alles.«

Gratch lächelte Fräulein Sanderholt erneut an, diesmal schlug er dazu noch temperamentvoll mit den Flügeln. Fräulein Sanderholt konnte nicht anders, sie wich taumelnd einen Schritt zurück. Sie stand gerade erst im Begriff zu verstehen, daß dieser Gar anders war als die, die für die Menschen von jeher eine Bedrohung darstellten, doch ihre Instinkte waren noch immer mächtiger als diese Erkenntnis. Gratch ging auf die Frau zu, um sie an sich zu drücken. Richard war überzeugt, daß sie vor Angst sterben würde, bevor sie die gute Absicht des Gar erkannte, also hielt er Gratch mit der Hand zurück.

»Er mag Euch, Fräulein Sanderholt. Er wollte Euch nur umarmen, das ist alles. Aber ich denke, es reicht, wenn Ihr Euch bedankt.«

Schnell fand sie ihre Fassung wieder. »Unsinn.« Sie lächelte freundlich und breitete die Arme aus. »Ich möchte in die Arme genommen werden, Gratch.«

Gratch gurgelte vor Wonne und hob sie hoch. Leise warnte Richard Gratch, behutsam mit ihr umzugehen. Fräulein Sanderholt kicherte unterdrückt und hilflos. Als sie wieder auf dem Boden stand, zupfte sie ihr Kleid über ihrem knochigen Körper zurecht und zog das Wolltuch ungeschickt über ihre Schultern. Sie strahlte freundlich.

»Ihr habt recht, Richard. Er ist kein Haustier. Er ist ein Freund.«

Gratch nickte begeistert. Seine Ohren zuckten, während er erneut mit den ledrigen Flügeln schlug.

Richard zog ein weißes, fast sauberes Cape von einem Mriswith in der Nähe. Er bat Fräulein Sanderholt um Erlaubnis, und als sie einverstanden war, schob er sie vor die Eichentür eines kleinen, niedrigen Steinschuppens. Er legte ihr das Cape um die Schultern und zog ihr die Kapuze über den Kopf.

»Ich möchte, daß Ihr Euch konzentriert«, erklärte er ihr. »Konzentriert Euch auf das Braun der Tür hinter Euch. Haltet das Cape unter Eurem Kinn zusammen und schließt die Augen, wenn Euch das beim Konzentrieren hilft. Stellt Euch vor, Ihr seid eins mit der Tür und habt dieselbe Farbe wie sie.«

Sie sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Warum sollte ich das tun?«

»Ich möchte sehen, ob Ihr Euch unsichtbar machen könnt wie sie.«

»Unsichtbar!«

Richard lächelte aufmunternd. »Versucht es doch einfach mal!«

Sie atmete hörbar aus, schließlich nickte sie. Langsam schloß sie die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger und langsamer. Nichts geschah. Richard wartete noch ein Weilchen, doch noch immer passierte nichts. Das Cape blieb weiß, nicht ein Faden darin färbte sich braun. Schließlich öffnete sie die Augen wieder.

»Bin ich unsichtbar geworden?« fragte sie, und es klang, als machte ihr diese Vorstellung angst.

»Nein«, mußte Richard zugeben.

»Das habe ich mir gedacht. Aber wie machen diese widerlichen Schlangenmenschen sich unsichtbar?« Sie warf das Cape mit einem Schulterzucken ab und schüttelte sich vor Ekel. »Und wie kommt Ihr darauf, daß ich das könnte?«

»Sie heißen Mriswiths. Und es sind die Capes, die ihnen das ermöglichen. Daher dachte ich, Ihr könntet es vielleicht auch.« Sie sah ihn zweifelnd an. »Hier, ich will es Euch beweisen.«

Richard nahm ihren Platz vor der Tür ein und zog die Kapuze seines Mriswithcapes hoch. Dann schlug er das Cape übereinander, schloß es, und konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe. Einen Atemzug später nahm das Cape genau die Farbe dessen an, was sich hinter ihm befand. Richard wußte, daß die Magie des Capes, offenbar unterstützt durch seine eigene, irgendwie auch die bloßliegenden Teile seines Körpers verhüllte, so daß er völlig verschwand.

Als er sich vor der Tür bewegte, veränderte sich das Cape stets so, daß es genau mit dem übereinstimmte, was sie hinter ihm sah, und als er vor die weißen Steine trat, schienen die farblosen Steinblöcke und die dunkleren Fugen über ihn hinwegzugleiten und ahmten den Hintergrund so täuschend nach, als blickte sie durch ihn hindurch. Aus Erfahrung wußte Richard, daß es selbst dann keinen Unterschied machte, wenn der Hintergrund sehr vielfältig war. Das Cape war in der Lage, sich allem anzupassen, was sich hinter ihm befand.

Als Richard sich entfernte, starrte Fräulein Sanderholt noch immer auf die Tür, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, Gratch dagegen ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Die grünen Augen des Gar bekamen etwas zunehmend Bedrohliches, während er Richards Bewegungen folgte. Sein Knurren wurde lauter.

Richard ließ es dabei bewenden. Die Hintergrundfarben lösten sich vom Cape, und es wurde, als er die Kapuze zurückschlug, wieder schwarz. »Ich bin’s noch immer, Gratch.«

Fräulein Sanderholt erschrak, fuhr herum und entdeckte ihn an seinem neuen Standort. Gratchs Knurren verlor sich, ging erst in Verwirrung, dann in ein Grinsen über. Als er das neue Spiel durchschaute, fing er leise gurgelnd an zu lachen.