Gleich allen Angehörigen ihres bemerkenswerten Volkes war sie von vollendeter Schönheit. Diese hochentwickelte Rasse der Marsmenschen entspricht äußerlich in jeder Hinsicht dem Idealbild des Erdenmenschen, bis auf die Tatsache, daß ihre Haut hell kupferfarben ist. Da das Mädchen keinen Schmuck trug, vermochte ich ihr Alter nicht zu schätzen. Man konnte annehmen, daß es unter den gegebenen Umständen entweder eine Gefangene oder eine Sklavin war.
Nach einigen Sekunden dämmerte mir, was die Geräusche nebenan zu bedeuten hatten. Es war Tars Tarkas, der sich offenbar verzweifelt gegen wilde Tiere oder Männer zur Wehr setzte.
Mit einem ermutigenden Schrei warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Geheimtür, hätte mir indes genauso vornehmen können, die Felsen selbst einreißen zu wollen. Daraufhin versuchte ich, das Geheimnis des drehbaren Wandstückes herauszufinden. Doch meine Mühe blieb unbelohnt. Schon wollte ich das lange Schwert gegen das düstere Gold erheben, als mir die junge Gefangene zurief: »Schone dein Schwert, mächtiger Krieger, denn du wirst es noch für andere Zwecke brauchen – zerschmettere es nicht an diesem gefühllosen Metall, wo der Wissende durch eine leichte Berührung weitaus mehr auszurichten vermag.«
»Dann kennst du das Geheimnis?« fragte ich.
»Ja, befreie mich, und ich verschaffe dir Zugang zu dem grauenhaften Nebenraum, so du es wünschst. Doch warum möchtest du erneut dem wilden Banth oder irgendeiner anderen zerstörungswütigen Kreatur entgegentreten, die sie in diese fürchterliche Falle gelassen haben?«
»Weil dort mein Freund mutterseelenallein um sein Leben kämpft«, antwortete ich, während ich eilig den Leichnam des Hüters dieser düsteren Schreckenskammer nach dem Schlüsselbund abtastete und dies schließlich auch fand.
An dem ovalen Ring befanden sich viele Schlüssel, doch das hübsche Marsmädchen zeigte mir schnell denjenigen, mit dem sich das große Schloß an ihrer Taille öffnen ließ, und als sie frei war, eilte sie zu der geheimen Wandtafel.
Sie griff zu einem anderen Schlüssel, diesmal einem schlanken, nadelartigen Teil, das sie in ein beinahe unsichtbares Loch in der Wand schob. Sofort begann sich die Drehtür in Bewegung zu setzen, und das Bodenteil, auf dem ich stand, brachte mich zu Tars Tarkas in den Nebenraum.
Der große Thark lehnte mit dem Rücken in einer Ecke, während ihm gegenüber im Halbkreis ein halbes Dutzend riesiger Monster sprungbereit auf eine günstige Gelegenheit warteten. Ihre blutüberströmten Köpfe und Schultern erklärten ihre Vorsicht und legten Zeugnis von der Schwertkunst des grünen Kriegers ab, dessen glänzende Haut wiederum auf dieselbe stumme und beredte Weise von den ungestümen Angriffen berichtete, denen er bisher widerstanden hatte.
Scharfe Krallen und grausame Fänge hatten seine Arme, Beine und Brust buchstäblich in Streifen gerissen. Die unablässige Anstrengung und der Blutverlust hatten ihm jede Kraft genommen, und ich bezweifelte, daß er ohne Stütze noch aufrecht stehen konnte. Doch mit der seinem Volk eigenen Hartnäckigkeit und unendlichen Tapferkeit bot er noch immer den grausamen und unnachgiebigen Widersachern die Stirn –wie es das uralte Sprichwort seines Volkes sagte: »Laß einem Thark den Kopf und eine Hand, und noch ist sein Kampf nicht verloren.«
Als er mich sah, verzog sich sein grausamer Mund zu einem grausamen Lächeln. Doch ob dies aus Erleichterung geschah oder ob ihn lediglich mein Zustand erheiterte – denn ich war blutüberströmt und sah übel zugerichtet aus – weiß ich nicht.
Ich wollte ihm gerade mit dem scharfen Schwert zu Hilfe eilen, als sich mir eine leichte Hand auf die Schulter legte. Ich wandte mich um und stellte zu meiner Überraschung fest, daß die junge Frau mir gefolgt war. »Warte, überlaß sie mir«, flüsterte sie, schob mich beiseite und trat wehrlos und unbewaffnet auf die knurrenden Banths zu.
Als sie dicht vor ihnen stand, sprach sie mit leiser, doch gebieterischer Stimme ein einziges Marswort. Blitzschnell fuhren die großen Biester zu ihr herum, und ich sah das Mädchen bereits in Stücke gerissen, da krochen sie auf sie zu, wie Welpen in Erwartung einer verdienten Bestrafung.
Erneut redete sie, doch so leise, daß ich die Worte nicht verstehen konnte. Daraufhin begab sie sich zur anderen Seite des Raumes, wobei sich die sechs riesigen Monster an ihre Fersen hefteten. Dann schickte sie einen nach dem anderen durch die Geheimtür in den Nebenraum, und als der letzte aus der Kammer verschwunden war, in der wir vor Staunen starr dastanden, lächelte sie uns an und verließ uns ebenfalls.
Einen Augenblick herrschte Stille. Dann sagte Tars Tarkas: »Nachdem du durch die Geheimtür gesprungen bist, habe ich den Kampf hinter der Wand mit angehört. Doch ich begann mir erst Sorgen um dich zu machen, als ich den Schuß vernahm. Ich war mir sicher, daß es auf ganz Barsoom niemanden gibt, der deiner blanken Klinge entgegentritt und am Leben bleibt, doch bei dem Knall verlor ich die Hoffnung, da ich wußte, daß du keine Schußwaffe bei dir trugst. Was ist geschehen?«
Nachdem ich ihm alles erzählt hatte, suchten wir gemeinsam nach dem unsichtbaren Wandteil, durch das ich soeben in die Felskammer gelangt war und durch das das Mädchen ihre wilden Gefährten geführt hatte.
Zu unserer Enttäuschung war das Geheimschloß trotz aller Bemühungen nicht aufzufinden. Wir fühlten, daß sich uns, waren wir erst einmal diesen Wänden entkommen, mit Sicherheit ein Weg in die Außenwelt eröffnen würde, zumindest konnten wir darauf hoffen.
Die Tatsache, daß die Gefangenen angekettet waren, deutete auf einen Fluchtweg von diesem unsäglichen Ort, wo die schrecklichen Kreaturen hausten.
Immer wieder gingen wir von einer Tür zur anderen, von der abweisenden, goldenen Wandfläche auf der einen Seite der Kammer zum Gegenstück auf der anderen Seite, das ebenso uneinnehmbar aussah.
Wir hatten schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben, als sich eine der Drehtüren plötzlich lautlos in Bewegung setzte und die junge Frau, die die Banths hinweggeführt hatte, wieder bei uns stand. »Wer seid ihr?« fragte sie. »Was ist euer Auftrag, daß ihr die Kühnheit besitzt, aus dem Tal Dor fliehen zu wollen, vor dem Tod, den ihr gewählt habt?«
»Ich habe den Tod nicht gewählt, Mädchen«, entgegnete ich. »Ich bin kein Barsoomier, auch habe ich noch nicht die freiwillige Pilgerfahrt entlang des Flusses Iss angetreten. Mein Freund ist der Jeddak der Thark, und obwohl er noch nicht den Wunsch ausgesprochen hat, zu den Lebenden zurückzukehren, werde ich das Lügengespinst zerschlagen, das ihn zu diesem entsetzlichen Ort lockte. Ich stamme aus einer anderen Welt. Mein Name ist John Carter, ich bin der Prinz des Hauses von Tardos Mors, dem Jeddak von Helium. Vielleicht habt ihr in dieser Hölle auch schon von mir gehört.«
Sie erwiderte lächelnd: »Ja. Nichts von dem, was in der Außenwelt vor sich geht, bleibt hier unbekannt. Man hat mir vor vielen Jahren von euch erzählt. Die Therns fragten sich oft, wohin ihr geflohen seid, da ihr weder die Wallfahrt auf euch genommen habt noch auf Barsoom gefunden wurdet.«
»Sag mir, wer bist du, und warum bist du eine Gefangene, wenn du über die wilden Tiere dieses Ortes zu befehlen vermagst?« fragte ich. »Eine solche Vertrautheit und Autorität geht weit über das hinaus, was von einem Gefangenen oder Sklaven erwartet wird.«
»Ich bin Sklavin«, erzählte sie. »Seit fünfzehn Jahren werde ich an diesem schrecklichen Ort gefangen gehalten. Da man meiner nun überdrüssig geworden ist und sich vor der Macht fürchtet, die mir meine Kenntnisse über die hiesigen Gepflogenheiten verliehen haben, verurteilte man mich erst vor kurzem zum Tode.«
Sie erschauderte.
»Wie solltest du sterben?« fragte ich.
»Die Heiligen Therns essen Menschenfleisch«, antwortete sie. »Doch nur das Fleisch von jenen, die unter den Lippen eines Pflanzenmenschen verendet sind – Fleisch, dem der verunreinigende Lebenssaft ausgesaugt wurde. Dieses grausame Ende hatte man mir zugedacht. Es sollte schon in wenigen Stunden geschehen, hätte eure Ankunft ihre Pläne nicht durchkreuzt.«