»Waren es dann die Heiligen Therns, die John Carters Hand zu spüren bekamen?« fragte ich.
»Oh nein, jene, die ihr besiegtet, waren niedere Therns, doch diese sind nicht minder grausam und hassenswert. Die Heiligen Therns leben auf den äußeren Abhängen dieser düsteren Berge, der weiten Welt zugewandt, von der sie sich ihre Opfer holen. Gänge eines Labyrinths verbinden die luxuriösen Paläste der Heiligen Therns mit diesen Höhlen. Hier sind die niederen Therns anzutreffen, wenn sie ihren zahlreichen Pflichten nachgehen, ebenso Horden von Sklaven, Gefangenen und wilden Tieren, jenen finsteren Bewohnern dieser Welt, die keine Sonne kennen. In einem riesigen Netzwerk von Gängen und zahllosen Kammern hausen Männer, Frauen und Tiere, die in dieser düsteren und grauenvollen Unterwelt geboren wurden und niemals ans Tageslicht kamen – und es auch nie tun werden. Sie müssen den Geboten der Therns Folge leisten, die sich die Sklaven zu ihrem Vergnügen und als Diener halten. Immer wieder treibt es einen der unglückseligen Pilger vom kalten Iss auf die stille See hinaus, er entkommt den Pflanzenmenschen und den großen weißen Affen, die den Tempel von Issus bewachen, und gerät in die Klauen der erbarmungslosen Therns. Andere erleiden das Mißgeschick, einem der Heiligen Therns ins Auge zu fallen, wenn er zufällig auf dem Balkon über dem Fluß Wache hält, der, aus dem Inneren des Gebirges kommend, sich seinen Weg durch die goldenen Felsen in das Verlorene Meer von Korus bahnt. So erging es mir. Der Sitte nach sind alle, die im Tal Dor ankommen, rechtmäßige Beute der Pflanzenmenschen und der Affen, während Waffen und Schmuck den Therns zustehen. Entkommt jedoch einer den schrecklichen Einwohnern des Tales für nur einige Stunden, können die Therns ihr Recht auf ihn geltend machen. Und immer wieder tritt ein Heiliger Thern, der sich auf Wache befindet, das Recht der unwissenden Kreaturen mit Füßen, und nimmt sich, falls er etwas Begehrenswertes sieht, seinen Teil auf unlautere Weise, wenn er es nicht mit ehrlichen Methoden bekommen kann. Gelegentlich soll ein Opfer des barsoomischen Aberglaubens den zahllosen Angreifern, die dem Armen von dem Moment an zusetzen, an dem er aus dem unterirdischen Gang auftaucht, durch den der Iss tausend Meilen bis zu seiner Mündung im Tal Dor fließt, entkommen und bis zu den Mauern des Tempels von Issus gelangen. Doch welches Schicksal einen dort erwartet, wissen nicht einmal die Heiligen Therns, denn jene, die hinter diese vergoldeten Mauern gelangten, sind niemals zurückgekehrt, um die Geheimnisse zu lüften, die sich seit Anbeginn der Zeiten dahinter verbergen. Der Tempel von Issus bedeutet den Therns das, was sich die Menschen der Außenwelt unter dem Tal Dor vorstellen. Es ist der letzte Hafen des Friedens, der Ruhe und Glückseligkeit, wohin sie sich nach diesem Leben auf den Weg machen und wo sie sich für alle Ewigkeit den fleischlichen Freuden hingeben, die auf diese Rasse geistiger Größen und moralischer Zwerge größte Anziehungskraft ausüben.«
»So ist der Tempel von Issus ein Paradies im Paradies«, sagte ich. »Hoffen wir, daß es den Therns dort ebenso ergeht, wie sie es hier anderen ergehen lassen.«
»Wer weiß?« murmelte das Mädchen.
»Nach dem, was du erzählt hast, sind die Therns nicht weniger sterblich als wir. Und doch habe ich die Menschen von Barsoom von ihnen nur mit äußerster Ehrfurcht und Verehrung sprechen hören, so, wie man sich nur über die Götter selbst äußert.«
»Die Therns sind sterblich«, entgegnete sie. »Sie gehen an denselben Dingen zugrunde wie ihr und ich. Jene, die ihre Lebensspanne von eintausend Jahren ausschöpfen, treten dem Brauch nach den Weg in die Glückseligkeit an und begeben sich in den langen Tunnel, der nach Issus führt. Diejenigen, die eher sterben, sollen den Rest ihrer Zeit im Geist eines Pflanzenmenschen verbringen. Aus diesem Grund werden die Pflanzenmenschen von den Therns als heilig angesehen, da diese glauben, daß jede der schrecklichen Kreaturen in ihrem vorherigen Leben ein Thern war.«
»Und wenn ein Pflanzenmensch stirbt?« fragte ich. »Stirbt er vor Ablauf der tausend Jahre von der Geburt des Therns an gerechnet, dessen unsterbliche Seele in ihm wohnt, wandert diese in einen großen, weißen Affen. Doch stirbt dieser auch nur kurz vor der Stunde, in der die tausend Jahre zu Ende gehen, ist die Seele für immer verloren und wandert in den Rumpf eines der schleimigen, fürchterlichen, zappelnden Silians, von denen es in dem stillen Meer zu Tausenden wimmelt, wenn die Sonne untergegangen ist, die Monde über den Himmel ziehen und seltsame Gestalten durch das Tal Dor streifen.«
»Demnach haben wir heute mehrere Heilige Therns zu den Silians gesandt«, sagte Tars Tarkas lachend.
»Und um so fürchterlicher wird euer Tod sein, wenn er kommt«, entgegnete das Mädchen. »Und er wird kommen – ihm entgeht ihr nicht.«
»Vor Jahrhunderten hat es einer geschafft«, erinnerte ich sie. »Und was einmal gelungen ist, kann auch ein weiteres Mal gelingen.«
»Es ist sinnlos, es überhaupt zu versuchen«, antwortete sie mutlos.
»Aber versuchen werden wir es, und wenn du möchtest, kannst du mit uns kommen«, rief ich.
»Um von meinen Leuten getötet zu werden und mit meinem Andenken Schmach und Schande über meine Familie und meine Nation zu bringen? Ein Prinz des Hauses von Tardos Mors sollte Klügeres tun als einen solchen Vorschlag unterbreiten!«
Tars Tarkas sagte nichts zu alledem, doch ich spürte seinen Blick und wußte, daß er auf meine Antwort wartete wie der Angeklagte, dem der Vorsitzende der Geschworenen das Urteil verliest.
Was ich dem Mädchen zu tun riet, würde auch unsere Zukunft besiegeln, denn wenn ich mich dem unvermeidlichen Urteil jahrhundertealten Aberglaubens beugte, müßten wir alle bleiben und irgendeinem fürchterlichen Schicksal an diesem Ort des Schreckens und der Grausamkeit entgegentreten.
»Wir haben das Recht zu fliehen, wenn es möglich ist«, entgegnete ich. »Gelingt es uns, widerspricht das nicht unseren Moralvorstellungen, denn wir wissen, daß das sagenhafte Leben voller Liebe und Frieden im gesegneten Tal Dor schändlicher Betrug ist. Wir wissen, das Tal ist nicht heilig, und auch die Heiligen Therns sind nur grausame und herzlose Sterbliche, die nicht mehr über das wirkliche Leben danach wissen als wir. Es ist nicht nur unser Recht, alles Erdenkliche zu unternehmen, um zu fliehen – es ist eine ernste Pflicht, vor der wir nicht zurückschrecken sollten, auch wenn wir wissen, daß wir von unserem Volk nur beschimpft und gequält werden, sobald wir zu ihm zurückkehren. Nur so erfahren die anderen draußen die Wahrheit, und obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß man unserer Schilderung Glauben schenkt, äußerst gering ist – dafür bürge ich, denn die Sterblichen sind in den unmöglichsten Aberglauben vernarrt – wären wir erbärmliche Feiglinge, wenn wir uns vor dieser einfachen Pflicht drückten. Auch besteht die Möglichkeit, daß, wenn mehrere die Wahrheit der schwerwiegenden Aussage bezeugen, man unsere Erklärungen annimmt, und zumindest der Kompromiß erwirkt werden kann, eine Forschungsexpedition zu diesem schrecklichen Hohn auf das Eden auszusenden.«
Sowohl das Mädchen als auch der Krieger standen eine Zeitlang still da und dachten nach. Schließlich brach sie das Schweigen und sagte: »Noch nie habe ich die Angelegenheit in diesem Licht betrachtet. Ich würde wirklich tausendmal mein Leben dafür geben, um nur einer einzigen Seele dieses schreckliche Dasein zu ersparen, das ich an diesem grauenvollen Ort geführt habe. Ihr habt recht. Ich gehe mit euch, so weit wir kommen. Dennoch zweifle ich, daß uns die Flucht von hier gelingt.«
Mit einem fragenden Blick wandte ich mich an den Thark.
»Zu den Toren von Issus, auf den Grund von Korus, in das Eis im Norden oder im Süden, wohin John Carter geht, soll auch Tars Tarkas gehen. Ich habe gesprochen«, entgegnete der grüne Krieger.
»Dann kommt«, rief ich. »Wir müssen uns auf den Weg machen, denn zu keiner Zeit sind wir weiter von der Rettung entfernt als jetzt, wo wir uns im Inneren des Berges befinden, innerhalb der vier Wände dieser Todeszelle.«