»Hier ist einer von ihnen«, sagte Thuvia und wies auf den Thark. »Wenn ihr euch den Toten neben der Tür anseht, habt ihr auch den anderen. Es blieb Sator Throg und seinen armen Sklaven überlassen, zu tun, wozu die niederen Thern der Wache nicht in der Lage waren – wir haben einen getötet und den anderen gefangen genommen, denn das hatte Sator Throg uns freigestellt. Und nun kamt ihr und habt in eurer Dummheit alle außer uns umgebracht, und beinahe hättet ihr auch den mächtigen Sator Throg getötet.«
Die Männer sahen sehr verlegen und erschrocken aus.
»Sollten sie nicht die Toten den Pflanzenmenschen vorwerfen und dann in ihre Unterkünfte zurückkehren, Mächtiger?« wandte sich Thuvia an mich.
»Ja, tut, wie euch Thuvia geheißen«, sagte ich.
Als die Männer die Toten aufhoben, bemerkte ich, daß einer, der sich zum wirklichen Sator Throg gebeugt hatte, stutzte, als er dessen ihm zugewandtes Gesicht von nahem sah, und mir einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zuwarf.
Ich hätte schwören können, daß er die Wahrheit ahnte, doch aus seinem Schweigen schloß ich, daß es nur ein Verdacht war, den er nicht laut zu äußern wagte.
Als er den Toten hinaustrug, blickte er noch einmal prüfend zu mir, dann wieder auf den kahlen, glänzenden Schädel des Mannes in seinen Armen. Als letztes sah ich ihn von der Seite, als er, ein schlaues, triumphierendes Lächeln auf den Lippen, den Raum verließ.
Nur Tars Tarkas, Thuvia und ich blieben zurück. Die verhängnisvolle Treffsicherheit der Therns hatte unsere Gefährten der winzigen Chance beraubt, die gefahrvolle Freiheit der Welt draußen wiederzuerlangen.
Sobald der letzte aus der grausamen Prozession verschwunden war, drängte uns das Mädchen, weiterzugehen.
Auch ihr war die zweifelnde Haltung des Therns aufgefallen, der Sator Throg fortgetragen hatte.
»Das bedeutet für uns nichts Gutes, o Prinz«, sagte sie. »Denn auch wenn dieser Mann nicht gewagt hat, dich des Betruges zu beschuldigen, gibt es über ihm jemanden, der mächtig genug ist, eine genauere Untersuchung zu verlangen, und diese, Prinz, wäre in der Tat verhängnisvoll.«
Ich zuckte die Schultern. Offenbar schien am Ende unsers Leidenswegs in jedem Fall der Tod zu warten. Durch den Schlaf hatte ich mich erholt, doch fühlte ich mich wegen des Blutverlustes noch immer schwach. Meine Wunden schmerzten. Nirgendwo konnte ich auf medizinische Hilfe hoffen. Wie sehnte ich die fast wundersamen Heilkräfte der Salben und Elixiere der grünen Marsfrauen herbei! Binnen einer Stunde hätten sie mir wieder zu neuen Kräften verholfen.
Ich war entmutigt. Nie zuvor hatte mich angesichts von Gefahr eine solche Hoffnungslosigkeit befallen. Da blies mir ein zufälliger Luftzug eine der langen, gelben Locken des Heiligen Therns ins Gesicht.
Konnten sie mir nicht noch immer den Weg in die Freiheit bahnen? Vielleicht gelang uns noch rechtzeitig die Flucht, bevor der Alarm ausgerufen wurde? Zumindest sollten wir es versuchen. »Was wird der Mann als erstes tun, Thuvia?« fragte ich. »Wann werden sie unsertwegen zurückkehren?«
»Er wird schnurstracks zum Vater der Therns gehen, dem alten Matai Shang. Vielleicht muß er noch um eine Audienz bitten, doch da er unter den niederen Therns einen hohen Rang innehat, nämlich den eines Thorians, wird Matai Shang ihn nicht lange warten lassen. Wenn der Vater der Therns seiner Geschichte Glauben schenkt, wird es in den Gängen und Gemächern, den Höfen und Gärten binnen einer Stunde von Suchtrupps wimmeln.«
»Was wir tun können, muß also innerhalb einer Stunde geschehen. Welches ist der beste, kürzeste Weg aus dieser göttlichen Unterwelt?«
»Der Weg direkt zum Felsgipfel, Prinz«, entgegnete sie. »Weiter durch die Gärten zu den Innenhöfen. Dann müssen wir mitten durch die Tempel der Therns, um zum Außenhof zu gelangen. Dann kommen die Schutzwälle – oh, Prinz, es ist hoffnungslos. Nicht einmal zehntausend Kriegern würde es gelingen, von diesem schrecklichen Ort zu entkommen. Seit Anbeginn der Zeit haben die Therns ihre Festung Stück für Stück, Stein für Stein ausgebaut. Eine ununterbrochene Linie unbezwingbarer Befestigungen verläuft entlang der äußeren Abhänge des Gebirges Otz. In den Tempeln hinter den Schutzwällen warten eine Million kampfbereiter Krieger. Die Höfe und Gärten sind voller Sklaven, Frauen und Kinder. Niemand könnte auch nur einen Schritt tun, ohne entdeckt zu werden.«
»Da uns nichts anderes übrigbleibt, Thuvia, warum läßt du dich über die Schwierigkeiten aus? Wir müssen uns ihnen stellen.«
»Sollten wir es nicht besser im Dunkeln versuchen?« fragte Tars Tarkas. »Bei Tage scheinen wir nicht die geringste Chance zu haben.«
»Nachts wäre sie etwas größer, doch sogar dann werden die Schutzwälle scharf bewacht, möglicherweise sogar schärfer als tagsüber. Trotzdem sind weniger Leute in den Höfen und Gärten unterwegs«, sagte Thuvia.
»Wie spät ist es?« fragte ich.
»Es war Mitternacht, als du mich von den Fesseln befreitest«, sagte Thuvia. »Zwei Stunden später kamen wir am Speicher an. Dort habt ihr vierzehn Stunden geschlafen. Jetzt muß fast Sonnenuntergang sein. Kommt, wir gehen zu dem nächsten Fenster im Felsen, dann wissen wir es genau.«
Mit diesen Worten führte sie uns durch die Windungen der Gänge, bis wir nach einem plötzlichen Knick vor einer Öffnung standen, von wo man das Tal Dor überblicken konnte.
Gerade versank die Sonne, eine riesige rote Kugel, rechts von uns hinter der westlichen Gebirgskette Otz. Ein Stück unter uns hielt der Heilige Thern auf seinem kleinen Balkon Wache. In Erwartung der nahenden Kälte, die bei Sonnenuntergang ebenso plötzlich hereinbricht wie die Dunkelheit, hatte er seine scharlachfarbene Dienstrobe fest um sich gezogen. Die Atmosphäre auf dem Mars ist so dünn, daß sie nur sehr wenig Sonnenwärme aufnimmt. Tagsüber ist es immer äußerst heiß, des Nachts extrem kalt. Außerdem bricht oder streut die dünne Atmosphäre die Sonnenstrahlen nicht, wie es auf der Erde der Fall ist. Auf dem Mars gibt es keine Dämmerung. Versinkt der große Ball am Horizont, ist die Wirkung exakt dieselbe, als lösche man die einzige Lampe in einem Raum. Vom hellsten Licht taucht man ohne Warnung in tiefste Finsternis. Dann gehen die Monde auf, die rätselhaften Zaubermonde vom Mars, die, riesigen Meteoren gleich, flach über den Planeten streifen.
Die untergehende Sonne erhellte das Ostufer von Korus, den scharlachfarbenen Rasen und den prächtigen Wald. Unter den Bäumen weideten mehrere Herden von Pflanzenmenschen. Die Erwachsenen standen aufrecht auf den Zehenspitzen und pflückten mit den mächtigen Schwänzen und Krallen jedes erreichbare Blatt und jeden Zweig ab. Nun verstand ich auch die geometrische Form der Bäume, die mich zu dem Irrtum verleitet hatte, der Hain, in dem ich aufwachte, läge im Gebiet eines zivilisierten Volkes.
Unsere Blicke wanderten schließlich zum brausenden Iss, der aus dem Felsen unter uns strömte. Bald tauchte aus dem Berginnern ein Boot auf, beladen mit verlorenen Seelen der Außenwelt. Es waren ein Dutzend, alle von ihnen entstammten dem hochentwickelten und gebildeten Volk der roten Marsmenschen, die auf dem Mars die Vorherrschaft besitzen.
Die Augen des Herolds fielen auf die zum Untergang verurteilte Gruppe im selben Moment wie unsere. Er hob den Kopf, lehnte sich weit über die flache Brüstung seines schwindelerregenden Ausgucks und gab das schrille, unheimliche Geheul von sich, das die Bewohner dieses höllischen Ortes zum Angriff rief.
Einen Augenblick lang hielten die Biester im Hain mit hoch erhobenen Ohren inne, dann strömten sie zum Ufer des Flusses, die Entfernung mit großen, linkischen Sprüngen hinter sich bringend.
Die Gruppe war an Land gegangen und stand auf dem Rasen, als die schrecklichen Horden auftauchten. Die Menschen unternahmen den kurzen und sinnlosen Versuch, sich zu verteidigen. Dann herrschte Stille, als die riesigen, abstoßenden Gestalten sich auf ihre Opfer warfen und bis zu zwanzig gierige Mäuler an das Fleisch ihrer Beute setzten.