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»Doch versucht ihr nicht mit allen Mitteln, den Aberglauben bei den Bewohnern der Außenwelt noch zu fördern?« argumentierte ich. »Das ist die gemeinste eurer Handlungen. Kannst du mir sagen, warum ihr diesen grausamen Betrug noch unterstützt?«

»Alles Leben auf Barsoom wird nur um der heiligen Rasse der Therns willen geschaffen«, sagte sie. »Wie sonst könnten wir leben, wenn die Außenwelt uns nicht Arbeitskräfte und Nahrung zur Verfügung stellte? Glaubst du, ein Thern würde sich selbst dadurch erniedrigen, zu arbeiten?«

»Ist es dann wahr, daß ihr Menschenfleisch eßt?« fragte ich entsetzt.

Voll Mitleid ob meiner Unwissenheit blickte sie mich an.

»Natürlich essen wir das Fleisch der niederen Ordnungen. Ihr nicht auch?«

»Das Fleisch von Tieren wohl, doch nicht das des Menschen«, entgegnete ich.

»Wie der Mensch das Fleisch von Tieren essen kann, so können Götter Menschenfleisch essen. Die Heiligen Therns sind die Götter von Barsoom.«

Ich war angewidert, und ich glaube, ich zeigte das auch.

»Jetzt bist du noch ein Ungläubiger«, fuhr sie sanft fort, »doch wenn es uns gelingen sollte, uns aus den Klauen der schwarzen Piraten zu befreien und zurück an den Hof von Matai Shang zu kommen, denke ich, werden wir ein Argument finden, dich von dem Irrtum deines Denkens zu überzeugen. Und – « Sie zögerte. »Vielleicht finden wir einen Weg, dich als einen von uns zu behalten.«

Wieder senkte sie den Blick, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Ich verstand den Grund dafür nicht, auch in der nächsten Zeit nicht. Dejah Thoris pflegte zu sagen, daß ich in mancher Hinsicht ein echter Einfaltspinsel bin, und ich nehme an, sie hatte recht damit.

»Ich fürchte, ich werde deinem Vater seine Gastfreundschaft schlecht vergelten«, antwortete ich. »Das erste, was ich als Thern tun würde, ist, eine bewaffnete Wache an der Mündung des Flusses Iss zu postieren, um die armen betrogenen Pilger zurück zur Außenwelt zu geleiten. Auch würde ich mein Leben der Ausrottung der schrecklichen Pflanzenmenschen und ihrer grauenerregenden Gefährten widmen, den großen weißen Affen.«

Von echtem Entsetzen gepackt, blickte sie mich an.

»Nein, nein, du darfst solche unerhörten Gotteslästerungen nicht äußern – so etwas darfst du nicht einmal denken. Sollten sie, falls wir je in die Tempel der Therns zurückkehren, jemals dahinterkommen, daß du derart fürchterliche Gedanken hegst, würden sie dich auf grauenvolle Weise sterben lassen. Nicht einmal mein – « Erneut errötete sie, und sprach dann weiter. »Nicht einmal ich könnte dich retten.«

Ich sagte nichts mehr. Offenbar war es sinnlos. Sie war dem Aberglauben noch mehr verfallen als die Marsmenschen der Außenwelt. Deren Kult bestand in der wunderschönen Hoffnung, ein Leben im Jenseits voller Liebe, Frieden und Glückseligkeit zu führen. Die Therns beteten die entsetzlichen Pflanzenmenschen und die Affen an, oder zumindest verehrten sie diese, da sie die Seelen ihrer eigenen Toten beherbergten.

An dieser Stelle öffnete sich die Tür unseres Gefängnisses, und Xodar trat ein.

Er lächelte mich freundlich an, und dabei zeigte sein Gesichtsausdruck Güte – alles andere als Grausamkeit und Rachsucht.

»Da du sowieso nicht fliehen kannst, sehe ich keine Notwendigkeit, dich unter Deck gefesselt zu halten«, sagte er. »Ich werde deine Fesseln durchschneiden, und du kannst mit nach oben kommen. Du wirst etwas sehr Interessantes miterleben, und da du niemals zur Außenwelt zurückkehrst, kann es nicht schaden. Du wirst etwas zu Gesicht bekommen, von dessen Existenz nur die Erstgeborenen und ihre Sklaven wissen – den unterirdischen Eingang ins Heilige Land, dem wirklichen Paradies von Barsoom. Es wird eine ausgezeichnete Lehrstunde für diese Tochter der Therns sein«, fügte er hinzu. »Sie wird den Tempel von Issus erblicken, und vielleicht auch wird Issus sie in ihre Arme schließen.«

Phaidor reckte das Kinn nach oben.

»Was für eine Gotteslästerung ist das, Hund von einem Piraten?« rief sie. »Issus würde eure gesamte Brut auslöschen, wenn ihr jemals ihrem Tempel zu nahe kämet.«

»Dann hast du noch viel zu lernen, Thern«, entgegnete Xodar mit einem häßlichen Lächeln. »Auch beneide ich dich nicht um die Art und Weise, wie du es lernen wirst.«

Als wir oben anlangten, sah ich zu meiner Überraschung, daß das Luftschiff eine riesige Einöde von Eis und Schnee überquerte. Soweit das Auge blicken konnte, war nirgendwo etwas anderes zu sehen.

Dafür konnte es nur eine Lösung geben: Wir befanden uns über dem Gletscher am Südpol. Auf dem Mars gibt es nur an den Polen Eis und Schnee. Unter uns war kein Leben auszumachen. Offenbar befanden wir uns sogar für die großen Pelztiere zu weit südlich, die die Marsmenschen so gern jagen.

Xodar stand neben mir, als ich über die Reling des Schiffes blickte. »Auf welchem Kurs befinden wir uns?« fragte ich ihn.

»Südsüdwest«, entgegnete er. »Du wirst direkt das Tal Otz sehen, wir werden einige hundert Meilen an ihm entlangfliegen.«

»Das Tal Otz!« rief ich aus. »Aber – liegt dort nicht das Land der Therns, von denen ich gerade erst entkommen bin?«

»Ja, du hast in der letzten Nacht dieses Eisland überquert, als wir dir hinterhergejagt sind. Das Tal Otz liegt in einer riesigen Senke am Südpol, tausend Fuß tiefer als das übrige Land, es ähnelt einem gigantischen, runden Kessel. Einige hundert Meilen von seinem nördlichen Rand erhebt sich das Gebirge Otz, das das Tal Dor einschließt. In dessen Mitte wiederum liegt das Verlorene Meer Korus. Am Ufer dieses Meeres steht der Goldene Tempel von Issus, im Land der Erstgeborenen. Dorthin führt uns unser Weg.«

Als ich umherblickte, begann mir zu dämmern, warum in all den Jahrhunderten nur einem einzigen die Flucht aus dem Tal Dor gelungen war. Eher fand ich es erstaunlich, daß überhaupt jemand Erfolg dabei haben konnte. Es war unmöglich, dieses gefrorene, windgepeitschte, riesige Ödland allein und zu Fuß zu überqueren.

»Nur mit einem Flugzeug konnte man ein solches Unternehmen wagen«, führte ich meine Gedanken laut zuende.

»So ist auch jener einzige den Therns vor langen, langen Zeiten entkommen. Niemandem außer ihm gelang jemals die Flucht aus dem Reich der Erstgeborenen«, sagte Xodar, mit einem Hauch von Stolz in der Stimme.

Inzwischen hatten wir den südlichsten Ausläufer der mächtigen Eisdecke erreicht. Sie endete jählings an einem tausend Fuß hohen Eiswall, dem sich flaches Land anschloß. Dort erhoben sich hier und da niedrige Hügel, man sah Baumgruppen sowie winzige Flüsse, die sich am Fuße der Eisbarriere durch Schmelzwasser gebildet hatten.

Einmal überquerten wir eine tiefe Gebirgsspalte, sie führte von der nun nördlich gelegenen Eiswand quer durch das Tal. Man konnte nicht sehen, wo sie schließlich endete. »Das ist der Fluß Iss«, erklärte Xodar. »Er fließt unter der Eisdecke und tief unter dem Tal Otz entlang, hier jedoch liegt das Flußbett offen.«

Bald darauf entdeckte ich etwas – ich hielt es für ein Dorf. Ich wies darauf und fragte Xodar, was es sei.

»Es ist ein Dorf von verlorenen Seelen«, entgegnete er lachend. »Dieser Streifen zwischen der Eisgrenze und dem Gebirge gilt als neutraler Boden. Einige Pilger brechen die freiwillige Wallfahrt entlang des Iss ab, erklimmen die furchteinflößenden Hänge der Schlucht unter uns und bleiben dann hier. Auch flieht ab und zu ein Sklave von den Therns hierher. Man bemüht sich nicht, diese Flüchtlinge wieder einzufangen, da es aus diesem äußeren Tal kein Entkommen gibt. Außerdem fürchten die Therns die Kreuzer der Erstgeborenen, die das Gebiet überwachen, viel zu sehr, als daß sie sich aus ihrem Land wagen. Auch wir lassen die armseligen Bewohner dieses äußeren Tales in Ruhe, denn sie haben nichts, was wir brauchen, auch sind sie zahlenmäßig nicht stark genug, um uns ein interessantes Gefecht zu liefern – so kümmern wir uns nicht um sie. Von diesen Dörfern gibt es mehrere, doch ist ihre Zahl in den vielen Jahren nur wenig angewachsen, da sie sich ständig bekriegen.«