Nun schlugen wir einen nordnordwestlichen Kurs ein und verließen das Tal der verlorenen Seelen. Bald darauf entdeckte ich auf der Steuerbordseite einen schwarzen Berg, der aus der trostlosen Eiswüste aufragte. Er war nicht hoch und, soweit ich das sehen konnte, oben abgeflacht.
Xodar hatte uns allein gelassen, da er an Bord einer Pflicht nachzugehen hatte. Phaidor und ich standen an der Reling. Das Mädchen hatte kein Wort gesprochen, seit man uns an Deck gebracht hatte.
»Ist das wahr, was er mir erzählt hat?« fragte ich sie.
»Teilweise ja«, entgegnete sie. »Das von dem äußeren Tal ist wahr, doch was er hinsichtlich des Tempels von Issus gesagt hat, daß dieser sich in der Mitte seines Landes befindet, stimmt nicht. Falls es stimmte – «, sie zögerte. »Oh, es kann nicht stimmen, nein. Denn wenn, dann hätte sich mein Volk seit Jahrhunderten in die Hände seiner grausamen Feinde begeben, um dort gefoltert zu werden und auf erniedrigende Weise umzukommen, als das wunderschöne. Ewige Leben zu führen, von dem man uns zu glauben gelehrt hat, daß es uns bei Issus erwartet.«
»So, wie die niederen Barsoomier der Außenwelt von euch in das schreckliche Tal Dor gelockt werden, kann es doch sein, daß die Erstgeborenen mit den Therns auf ähnlich entsetzliche Weise verfahren«, erwiderte ich. »Es wäre eine finstere und grauenvolle Vergeltung, Phaidor, indes eine gerechte.«
»Das kann ich nicht glauben«, sagte sie.
»Wir werden sehen«, antwortete ich. Dann schwiegen wir wieder, denn wir näherten uns zusehends dem schwarzen Berg, der auf irgendeine unklare Weise die Antwort auf unsere Fragen bereitzuhalten schien.
Als wir uns dem dunklen, stumpfen Kegel näherten, verminderte das Luftschiff die Geschwindigkeit, bis es sich kaum noch bewegte. Dann erklomm es den Gipfel, und ich sah, daß unter uns ein riesiger, runder Krater gähnte, dessen Grund in der vorherrschenden pechschwarzen Finsternis nicht mehr zu erkennen war.
Der Durchmesser dieser gigantischen Öffnung maß reichlich eintausend Fuß. Die Wände waren glatt und schienen aus einem schwarzen Basaltgestein zu bestehen.
Einen Augenblick lang verharrte das Luftschiff direkt über dem gähnenden Nichts und begann dann langsam in die schwarze Kluft hinabzutauchen. Immer tiefer ging es. Als uns die Dunkelheit aufgenommen hatte, wurden die Scheinwerfer eingeschaltet, und in deren trübem Schein sank das ungeheure Schlachtschiff immer weiter nach unten, offenbar in das Innere von Barsoom selbst.
Eine halbe Stunde lang ging es abwärts, dann endete der Schacht jählings in einem riesigen, unterirdischen Gewölbe. Unter uns hoben und senkten sich die Wogen eines verborgenen Meeres. Ein phosphoriszierendes Licht erhellte die Umgebung. Auf dem Meer wimmelte es von Schiffen. Hier und da tauchten kleine Inseln auf und bildeten einen Halt für die fremdartige und farblose Vegetation dieser seltsamen Welt.
Langsam und mit majestätischer Anmut sank das Kriegsschiff weiter nach unten, bis es schließlich auf dem Wasser aufsetzte. Während des Abstieges in den Krater waren die großen Propeller eingezogen und geborgen worden, an ihre Stelle waren die kleineren, indes leistungsstärkeren Wasserpropeller getreten. Als sie sich zu drehen begannen, nahm das Schiff seine Reise wieder auf. Es bewegte sich in diesem neuen Element ebenso lebhaft und sicher wie zuvor in der Luft.
Phaidor und ich waren sprachlos. Keiner von uns hatte je von der Existenz einer solchen Welt im Inneren von Barsoom gehört noch davon geträumt.
Fast alle Schiffe, die wir sahen, dienten kriegerischen Zwecken. Es gab einige wenige leichte Lastkähne, doch keines von den großen Handelsschiffen, wie sie zwischen den Städten der Außenwelt verkehren.
»Hier befindet sich der Hafen der Kriegsmarine der Erstgeborenen«, ließ sich eine Stimme hinter uns vernehmen.
Als wir uns umsahen, erblickten wir Xodar, der uns mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen beobachtete.
»Dieses Meer ist größer als Korus«, fuhr er fort. »Es erhält das Wasser von dem kleineren Meer oben. Um zu verhindern, daß es über eine bestimmte Höhe ansteigt, haben wir vier große Pumpstationen, die das überschüssige Wasser zurück in die Speicher oben im Norden leiten, von denen die roten Menschen das Wasser zur Bewässerung der Ländereien beziehen.«
Bei dieser Erklärung ging mir ein Licht auf. Die roten Menschen hatten es immer einem Wunder zugeschrieben, das die Wassermassen aus dem festen Gestein der Seitenwände ihrer Staubecken strömen ließ und den Vorrat an dem wertvollen Naß vergrößerte, das in der Außenwelt des Mars so knapp ist.
Nie vermochten ihre Weisen das Geheimnis zu ergründen, woher diese Unmassen an Wasser stammten. Im Laufe der Jahrhunderte hatten sie dann einfach begonnen, es als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren und hatten aufgehört, nach den Ursachen zu forschen.
Wir kamen an mehreren Inseln vorbei, auf denen man seltsam geformte Rundbauten sehen konnte. Sie hatten offenbar keine Dächer, und dicke Gitter befanden sich vor den kleinen Fenstern, die die Wände in der Mitte zwischen Boden und Gebäudespitze durchbrachen. Dem Aussehen nach mußten es Gefängnisse sein: Bewaffnete Posten, die vor den Gebäuden auf flachen Bänken hockten, verliehen dieser Annahme weiteren Nachdruck.
Wenige dieser Inseln waren größer als ein Morgen Land, doch bald sichteten wir vor uns eine wesentlich größere. Dorthin sollte uns auch unsere Reise führen, und bald darauf wurde das große Schiff an einem steilen Ufer festgemacht.
Xodar hieß uns ihm folgen. Mit einem halben Dutzend Offiziere und Mannschaften gingen wir von Bord und näherten uns einem riesigen, ovalen Bauwerk einige hundert Yards vom Strand entfernt.
»Bald sollst du Issus sehen«, sagte Xodar zu Phaidor. »Wir führen ihr die wenigen Gefangenen vor, die wir machten. Gelegentlich sucht sie sich einige von ihnen als Sklaven aus, um ihre Dienerschaft aufzufüllen. Niemand dient Issus länger als ein einziges Jahr.« Auf den Lippen des Schwarzen zeigte sich ein böses Lächeln, das dieser einfachen Erklärung eine grausame und unheilvolle Bedeutung verlieh.
Obwohl sich Phaidor weigerte, zu glauben, daß Issus derartige Verbündete besaß, hatten sich ihrer Zweifel und Ängste bemächtigt. Sie klammerte sich fest an mich und war nicht länger die stolze Tochter der Herren des Lebens und Todes auf Barsoom, sondern ein junges und erschrecktes Mädchen, das sich in der Gewalt erbarmungsloser Feinde befand.
Das Gebäude, das wir nun betraten, war nicht überdacht. In der Mitte befand sich ein langes Wasserbecken, das wie im Schwimmbad in den Boden eingelassen worden war. Darin schwamm ein schwarzer Gegenstand von merkwürdigem Aussehen. Ob es ein fremdartiges Monster war, das aus diesen unterirdischen Gewässern stammte, oder ein seltsames Floß, konnte ich nicht gleich erkennen.
Dennoch sollten wir das bald erfahren, denn als wir am Rand des Beckens neben dem Gegenstand standen, rief Xodar einige Worte in einer fremden Sprache. Augenblicklich öffnete sich oben eine Luke, und ein schwarzer Seemann sprang aus dem Inneren des seltsamen Gefährtes.
Xodar sprach den Matrosen an: »Übergib deinem Offizier Dator Xodars Befehle. Teile ihm mit, daß Dator Xodar mit Offizieren und Mannschaften zwei Gefangene begleitet, die in die Gärten von Issus beim Goldenen Tempel gebracht werden sollen.«
»Gesegnet sei die Schale deines ersten Ahnen, edelster Dator«, entgegnete der Mann. »Es soll genauso geschehen, wie du gesagt.« Er hob beide Hände mit den Handflächen nach hinten über den Kopf, so wie sich alle Völker auf Barsoom zu begrüßen pflegen, und verschwand erneut im Inneren seines Schiffes.
Einen Augenblick später erschien ein Offizier in einer seinem Range gemäßen prächtigen Ausrüstung an Deck und hieß Xodar auf das Schiff kommen. Wir kletterten hinter ihm an Bord und begaben uns nach unten.
Die Kajüte, in der wir uns wiederfanden, war so breit wie das Fahrzeug selbst und hatte zu beiden Seiten unterhalb des Wasserspiegels Bullaugen. Kaum waren alle unten, wurden einige Befehle gegeben, in deren Folge auch die Luke verschlossen und gesichert wurde, und das Boot begann unter dem rhythmischen Schnurren der Maschinen zu vibrieren.