Bald daraufbrach die dünne, zitternde Stimme das Schweigen und wiederholte in eintönigem Singsang die Worte, die seit vielen Jahrhunderten den Untergang von unzähligen Opfern besiegelt hatten: »Der Mann möge sich umdrehen und zu Issus schauen, im Wissen, daß jene Kreaturen niederer Herkunft, die das heilige Traumbild ihres blendend schönen Antlitzes erblicken, nur noch ein einziges Jahr zu leben haben.«
Ich tat, wie mir geheißen, erwartete einen Anblick, wie ihn nur die Enthüllung einer göttlichen Schönheit bieten mochte. Was ich sah, war eine geschlossene Wand bewaffneter Soldaten zwischen mir und einem Podium, auf dem eine große Bank aus mit Schnitzereien verziertem Sorapusholz stand. Eine schwarze Frau hockte darauf. Sie war offenbar sehr alt. Nicht ein Haar bedeckte ihren runzligen Schädel. Mit Ausnahme zweier gelber Eckzähne war sie völlig zahnlos. Zu beiden Seiten der dünnen, habichtartigen Nase glühten die tief in die Höhlen gesunkenen Augen. Ihr Gesicht war millionenfach gefurcht. Ebenso faltig und abstoßend war ihr Leib.
Ausgemergelte Arme und Beine an einem Rumpf, der ein höchst mißgestalter Unterleib zu sein schien, vervollständigte das heilige Traumbild ihrer blendenden Schönheit.
Sie war von einigen Sklavinnen umgeben, unter ihnen, blaß und zitternd, Phaidor.
»Ist dies der Mann, der sieben Erstgeborene besiegte und mit bloßen Händen Dator Xodar in seinem eigenen Lederzeug fesselte?« fragte Issus.
»Ruhmvolles Traumbild göttlichen Liebreizes, so ist es«, entgegnete der Offizier neben mir.
»Führt Dator Xodar hervor«, befahl sie.
Xodar wurde aus dem Nebenraum herbeigebracht.
Issus starrte ihn mit einem unheilverkündenden Schimmer in den Augen an.
»Und so einer wie du ist ein Dator der Erstgeborenen?« kreischte sie. »Für die Schmach, die du über die unsterbliche Rasse gebracht hast, sollst du deiner Ränge enthoben werden und unter die niedrigsten der niedrigsten gestellt werden. Du sollst nicht länger ein Dator sein, sondern für immer und ewig ein Sklave der Sklaven, um Botengänge und Transportdienste für die niederen Kreaturen in den Gärten von Issus auszuführen. Feiglinge und Sklaven tragen keine Rüstungen.«
Xodar stand steif und aufrecht da. Nicht ein Muskel bewegte sich, nicht eine Bewegung lief durch seinen athletischen Körper, als ein Soldat der Garde ihn unsanft der prächtigen Ausrüstung entledigte.
»Verschwinde!« schrie das aufgebrachte alte Weib. »Mir aus den Augen! Doch statt ein Sklave im Lichte der Gärten von Issus zu sein, sollst du diesem Sklaven, der dich besiegte, im Gefängnis auf der Insel Shador im Meer Omean dienen. Meine göttlichen Augen wollen ihn hier nicht mehr sehen, führt ihn fort!«
Langsam und mit hoch erhobenem Kopf wandte sich der stolze Xodar um und schritt aus dem Gemach. Issus erhob sich und schickte sich an, den Raum durch einen anderen Ausgang zu verlassen.
Sie wandte sich an mich und sagte: »Du sollst vorläufig nach Shador gebracht werden. Später wird sich Issus ansehen, wie du kämpfst. Geh!« Dann verschwand sie, begleitet von ihrem Gefolge. Nur Phaidor blieb etwas zurück, und als ich mich anschickte, meinen Bewachern zu folgen, lief sie mir hinterher.
»Oh, laß mich nicht an diesem schrecklichen Ort zurück!« bettelte sie. »Vergib mir die Dinge, die ich zu dir gesagt habe, mein Prinz. Ich habe sie nicht so gemeint. Nimm mich nur mit dir mit. Ich möchte die Gefangenschaft auf Shador mit dir teilen.« Ihre Worte waren eine beinah zusammenhanglose Folge von Gedanken, so schnell sprach sie. »Du hast nicht verstanden, welche Ehre ich dir erwiesen habe. Unter den Therns gibt es keine Ehe oder ein Eheversprechen wie unter den niederen Kreaturen der Außenwelt. Wir hätten miteinander für immer in Liebe und Glückseligkeit leben können. Wir beide haben Issus’ Antlitz gesehen und werden in einem Jahr sterben. Laß uns dieses Jahr zumindest gemeinsam verbringen, so glücklich, wie es den zum Untergang Verdammten noch möglich ist.«
»Wenn es für mich schwierig war, dich zu verstehen, Phaidor«, entgegnete ich, »warum kannst du dann nicht verstehen, daß es dir vielleicht ebenso schwerfällt, die Beweggründe, Bräuche und sozialen Regeln zu begreifen, die mich leiten? Ich möchte dich nicht verletzen oder die Ehre unterschätzen, die du mir erwiesen hast. Doch das, was du begehrst, wird nicht geschehen. Ungeachtet des unsinnigen Glaubens der Menschen von der Außenwelt, der Heiligen Therns oder der schwarzen Erstgeborenen bin ich nicht tot. Solange ich lebe, schlägt mein Herz nur für eine Frau – für die unvergleichliche Dejah Thoris, die Prinzessin von Helium. Wenn mich der Tod einholt, wird mein Herz aufhören zu schlagen. Doch was danach kommt, weiß ich nicht. Und darin bin ich genau so klug wie Matai Shang, Herr von Leben und Tod auf Barsoom, oder Issus, Göttin des Ewigen Lebens.«
Phaidor stand einen Moment da und blickte mich aufmerksam an. Kein Ärger zeigte sich diesmal in ihren Augen, nur ein ergreifender Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und Leid.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie, wandte sich um und schritt langsam auf die Tür zu, durch die Issus und ihr Gefolge den Raum verlassen hatten. Einen Augenblick später war sie verschwunden.
10. Die Gefängnisinsel Shador
In den äußeren Gärten, zu denen mich die Wache brachte, fand ich Xodar, umgeben von einer Schar schwarzer Edelleute, die ihn beschimpften und Unflat über ihm ausschütteten. Die Männer versetzten ihm Schläge ins Gesicht, und die Frauen spuckten ihn an.
Als ich erschien, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf mich.
»Ah«, schrie einer. »Das also ist die Kreatur, die den großen Xodar mit bloßen Händen überwältigte. Laßt uns sehen, wie er das vollbracht hat.«
»Er soll Thurid in Fesseln legen«, schlug eine wunderschöne Frau vor. »Thurid ist ein berühmter Dator. Thurid soll diesem Hund zeigen, was es heißt, einem wirklichen Mann entgegenzutreten.«
»Ja, Thurid! Thurid!« ertönten dutzende Stimmen.
»Da kommt er«, rief ein anderer. Ich wandte mich in die Richtung, in die er wies, und erblickte einen riesigen Schwarzen, beladen mit prächtigen Verzierungen und Waffen, der sich uns mit vornehmen und protzigem Gebaren näherte.
»Was ist?« donnerte er. »Was wolltet ihr von Thurid?« Schnell erklärte man es ihm.
Thurid blickte zu Xodar, die Augen zu zwei bösen Schlitzen verengt. »Calot!« zischte er. »Ich habe schon immer gewußt, daß in deiner Brust das nichtswürdige Herz eines Soraks schlägt. Oft hast du mich im geheimen Rat von Issus ausgestochen, doch nun auf dem Feld der Ehre, wo sich Männer wahrhaft miteinander messen, hat dein niederträchtiges Herz aller Welt seine Schwächen kundgetan. Calot, ich verachte dich!« Mit diesen Worten schickte er sich an, Xodar einen Tritt zu versetzen.
Mein Blut raste. Seit Minuten war es in Wallung geraten, angesichts der unfairen Art und Weise, auf die sie mit ihrem einst machtvollen Kameraden umsprangen, nur weil er Issus’ Gunst verloren hatte. Mir war Xodar gleichgültig, doch ertrage ich es nicht, mitanzusehen, wie jemand ungerecht behandelt und beschimpft wird. Dann sehe ich Rot, als hinge mir ein blutiger Nebel vor den Augen, ich lasse mich dann mehr vom Impuls des Augenblickes lenken und handle, wie ich es wahrscheinlich nach reichlicher Überlegung niemals tun würde.
Ich stand dicht neben Xodar, als Thurid mit dem Fuß zu einem gemeinen Tritt ausholte. Der erniedrigte Xodar stand regungslos wie eine Statue. Er war auf alle möglichen Beleidigungen und Beschimpfungen seitens seiner früheren Gefährten gefaßt und nahm sie in männlicher Ruhe und Gelassenheit hin.
Doch gleich Thurid holte auch ich Schwung und versetzte diesem einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein, so daß Xodar diese zusätzliche Schande erspart blieb.
Einen Augenblick herrschte gespannte Stille, dann sprang mir Thurid mit wütendem Gebrüll an die Kehle, so, wie es Xodar an Deck des Kriegsschiffes getan hatte. Das Ergebnis war dasselbe. Ich duckte mich unter den ausgestreckten Armen, und als er an mir vorbeistürzte, verpaßte ich ihm mit der Rechten einen fürchterlichen Schlag gegen den Unterkiefer.