Bald war ich bei ihm, und kurz darauf befanden wir uns auf dem Weg nach oben.
Tars Tarkas kletterte voran, und als ich hinter ihm am ersten Balken ankam, zog ich die Leiter hinter mir hoch und reichte sie ihm. Einhundert Fuß weiter oben verkeilte er sie sicher zwischen einem der Balken und dem Stamm. Auf dieselbe Weise löste ich den jeweils unteren Balken, nachdem ich ihn passiert hatte, so daß wir unsere Feinde bis in einhundert Fuß Höhe jeder Möglichkeit, uns einzuholen, beraubt hatten und eine Verfolgung oder ein Angriff aus dem Hinterhalt somit ausgeschlossen war.
Wie sich später herausstellen sollte, ersparte uns diese Vorsichtsmaßnahme eine Menge Unannehmlichkeiten und rettete uns schließlich das Leben.
Oben angekommen, wich Tars Tarkas beiseite, damit ich hinaustreten und die Lage erkunden konnte, denn ich war auf Grund meines geringeren Gewichtes und meiner Gewandtheit besser geeignet, mich in dieser schwindelerregenden und gefährlichen Höhe zu bewegen.
Der Ast stieg in Richtung Felsen leicht an und endete einige Fuß über einem schmalen Felsvorsprung, von dem aus es in eine enge Höhle ging.
Als ich auf dem schlankeren Teil des Astes stand, bog er sich unter meinem Gewicht, ich balancierte weiter und stellte fest, daß sich der äußerste Arm sanft in Höhe dieses nur noch einige Fuß entfernten Vorsprunges einpegelte. Fünfhundert Fuß weiter unten lag der strahlend scharlachrote Grasteppich, etwa fünftausend Fuß über mir ragte die mächtige, glänzende Felswand voller Pracht empor.
Die Höhle mir gegenüber hatte ich von unten nicht sehen können, die anderen lagen viel höher, vielleicht tausend Fuß. Doch soweit ich das beurteilen konnte, würde sie unsere Zwecke ebenso erfüllen wie jede andere, und so kehrte ich zum Baum zurück, um Tars Tarkas zu holen.
Gemeinsam tasteten wir uns auf der schwankenden Passage entlang. Am Ende des Astes angekommen, mußten wir indes feststellen, daß unser gemeinsames Gewicht den Ast hinunter drückte und die Höhlenöffnung nun zu weit oben lag, um sie zu erreichen.
Schließlich kamen wir darin überein, daß Tars Tarkas zurückklettern und dabei den längsten Ledergurt aus seiner Ausrüstung bei mir lassen sollte. Hatte sich der Ast dann wieder aufgerichtet, würde ich in die Höhle klettern, Tars Tarkas den Gurt hinunterlassen und ihn nach oben zum sicheren Felsvorsprung ziehen.
Ohne Zwischenfälle verwirklichten wir unser Vorhaben und befanden uns bald in schwindelerregender Höhe am Rand eines kleinen Balkons, von dem man eine wunderschöne Aussicht auf das Tal hatte.
Soweit das Auge blicken konnte, sah man den prächtigen Wald und den dunkelroten Grasteppich an den Ufern des ruhigen Meeres. Das Ganze wurde bewacht von unermeßlich hohen, glänzenden Felsen. Einmal glaubten wir in der Ferne ein vergoldetes Minarett zu erkennen, das in der Sonne inmitten sich wiegender Baumspitzen glänzte, doch schließlich verwarfen wir diese Idee in der Annahme, daß es sich dabei nur um eine Halluzination handelte, die unseren sehnlichsten Wunsch widerspiegelte, an diesem wunderschönen und doch abweisenden Flecken ein Stück Zivilisation zu Gesicht zu bekommen.
Unten am Ufer des Flusses verschlangen die großen weißen Affen die Überreste von Tars Tarkas’ früheren Gefährten, während die großen Herden der Pflanzenmenschen beim Weiden immer größere Kreise zogen, und dabei den Rasen auf Streichholzlänge hielten.
Da wir wußten, daß ein Angriff von Baumseite nun unwahrscheinlich war, beschlossen wir, die Höhle zu erkunden. Wir hatten Grund, zu glauben, daß sich der bereits eingeschlagene Weg im Inneren fortsetzte. Wohin er führte, wußten allein die Götter, offenbar jedoch von diesem Tal des Grauens fort.
Beim Näherkommen stellten wir fest, daß ein gut begehbarer Tunnel in das feste Gestein gehauen worden war. Er war etwa zwanzig Fuß hoch, fünf Fuß breit und hatte eine gewölbte Decke. Da wir nichts hatten, um Licht zu machen, tasteten wir uns langsam durch die zunehmende Dunkelheit, wobei Tars Tarkas mit der einen und ich mit der anderen Wand in Fühlung blieb. Wir hielten uns bei den Händen, um nicht in verschiedene Abzweigungen zu geraten und getrennt zu werden oder uns in irgendeinem komplizierten Labyrinth zu verirren.
Wie weit wir uns in dieser Weise fortbewegt hatten, kann ich nicht sagen, doch bald kamen wir zu einer Wand, die uns den Weg versperrte. Es schien eher eine Zwischenwand zu sein als das Ende der Höhle, denn sie fühlte sich an wie sehr hartes Holz, nicht wie Felsgestein.
Vorsichtig tastete ich sie ab und fand meine Mühe belohnt, als ich den Knopf entdeckte, den man auf dem Mars statt einer Klinke an den Türen anbringt.
Ich drückte sanft darauf und spürte die Tür nun völlig zu meiner Befriedigung langsam nachgeben. Einen Moment später blickten wir in einen schwach erhellten Raum, der leer zu sein schien.
Ohne viel Federlesens stieß ich die Tür auf und trat ein, dicht gefolgt von dem riesigen Thark. Als wir einen Augenblick unschlüssig im Raum umherblickten, veranlaßte mich ein leises Geräusch im Hintergrund, mich schnell umzudrehen, und ich sah zu meinem Erstaunen, daß sich der Zugang mit einem scharfen Klicken wie von unsichtbarer Hand schloß.
Sofort sprang ich zurück und wollte die Tür wieder öffnen, denn irgendwie deutete die mysteriöse Bewegung und die drückende, fast greifbare Stille das namenlose Unheil an, das uns in dieser steinernen Kammer im Inneren der Goldenen Felsen zu erwarten schien.
Vergeblich griff ich nach dem abweisenden Portal, während meine Augen erfolglos nach einem Ebenbild des Knopfes Ausschau hielten, der uns Einlaß gestattet hatte.
Und dann ertönte an diesem trostlosen Ort ein grausames, höhnisches und donnerndes Gelächter aus unsichtbarer Kehle.
3. Die geheimnisvolle Kammer
Nachdem das Gelächter in der Felskammer verklungen war, standen Tars Tarkas und ich einige Augenblicke lauschend da. Doch kein weiterer Laut durchbrach die herrschende Stille, und nichts regte sich.
Dann lachte Tars Tarkas leise, wie es seine Leute in Gegenwart von etwas Schrecklichem oder Furchteinflößendem zu tun pflegen. Es ist kein hysterisches Lachen, sondern eher ein Ausdruck echter Freude über Dinge, die beim Erdenmenschen Haßgefühle oder Tränen erwecken.
Wie oft habe ich mit ansehen müssen, wie die Marsmenschen sich in unkontrollierbaren Heiterkeitsausbrüchen auf dem Boden wälzten, wenn Frauen und kleine Kinder bei dem höllischen Marsfest – den großen Spielen – voller Qualen mit dem Tode rangen.
Ich blickte zu dem Thark hoch, selbst ein Lächeln auf den Lippen, denn das war hier tatsächlich nötiger als ein zitterndes Kinn.
»Was meinst du? Wo zum Teufel sind wir?« fragte ich.
Er blickte mich überrascht an und fragte: »Du willst wissen, wo wir sind? John Carter, soll das heißen, daß du nicht weißt, wo du bist?«
»Ich nehme an, auf Barsoom. Doch bis auf dich und die großen weißen Affen gibt es nichts, weswegen ich zu dieser Annahme kommen sollte, denn das, was ich heute erlebt habe, entspricht überhaupt nicht der Vorstellung von meinem geliebten Barsoom, wie ich es zehn Jahre lang gekannt habe, und auch nicht von der Welt, in der ich geboren wurde. Nein, Tars Tarkas, ich habe keine Ahnung, wo wir sein könnten.«
»Wo warst du, seit du vor Jahren die mächtigen Tore zur Atmosphärenfabrik geöffnet hast, als nach dem Tod des Verwalters die Maschinen still standen und ganz Barsoom zu ersticken drohte? Man hat deinen Körper nie gefunden, obwohl die Bewohner eines ganzen Planeten jahrelang nach dir gesucht haben und obwohl der Jeddak von Helium und seine Enkelin, deine Prinzessin, eine märchenhafte Belohnung ausgesetzt hatten, so daß sich sogar Prinzen königlichen Geblüts auf die Suche machten. Als alle Bemühungen, dich aufzufinden, fehlschlugen, kamen wir zu dem einzig möglichen Schluß – daß du dich auf die lange, letzte Wallfahrt entlang des geheimnisvollen Flusses Iss begeben hattest, um im Tal Dor am Ufer des Verlorenen Meeres von Korus auf die schöne Dejah Thoris, deine Prinzessin, zu warten. Doch warum du dich dorthin begeben hattest, war allen ein Rätsel, denn deine Prinzessin war ja noch am Leben...«