»Gott sei Dank«, unterbrach ich ihn. »Ich habe mich nicht getraut, dich danach zu fragen, denn ich fürchtete, daß die Rettung für sie zu spät kam. Als ich sie in jener längst vergangenen Nacht in den Palastgärten von Tardos Mors zurückließ, war sie sehr schwach. Sie war so kraftlos, daß ich kaum noch Hoffnung hatte, die Atmosphärenfabrik zu erreichen, bevor sie mich für immer verließ. Und sie ist am Leben?«
»Sie lebt, John Carter.«
»Du hast mir nicht gesagt, wo wir sind«, erinnerte ich ihn.
»Wir sind, wo ich dich zu finden hoffte, John Carter –, und noch jemanden. Vor vielen Jahren hast du die Geschichte über die Frau vernommen, die mir bewußt machte, daß grüne Marsmenschen zum Haß erzogen werden und mich zu lieben lehrte. Du weißt, welche grausamen Folterungen und welchen schrecklichen Tod sie von den Händen Tal Hajus’ für diese Liebe erleiden mußte. Ich glaubte, sie erwarte mich bei dem Verlorenen Meer von Korus. Du weißt, daß es einem Mann von einer anderen Welt, nämlich dir, John Carter, überlassen wurde, diesen unbarmherzigen Thark zu lehren, was Freundschaft ist. Auch du, dachte ich, streiftest im Tal Dor, dem Tal der Sorglosigkeit, herum. Ihr wart jene beiden, um derentwillen ich das Ende der langen Pilgerfahrt kaum erwarten konnte, die ich eines Tages würde antreten müssen. Als jedoch die Zeit verging und wir noch immer nichts von dir gefunden hatten – denn Dejah Thoris hat sich immer einzureden versucht, daß du nur kurzzeitig zu deinem Heimatplaneten zurückgekehrt seist – gab ich schließlich meinem großen Verlangen nach und trat vor einem Monat die Reise an, deren Ende du am heutigen Tag miterlebt hast. Weißt du nun, wo du bist, John Carter?«
»Dann war es der Fluß Iss, der im Tal Dor in das Verlorene Meer von Korus mündet?« fragte ich.
»Dies ist das Tal der Liebe, des Friedens und der Ruhe, wohin seit undenkbaren Zeiten jeder Barsoomier hofft, nach einem Leben voller Haß, Kampf und Blutvergießen pilgern zu können«, entgegnete er. »Das, John Carter, ist das Paradies.«
Seine Stimme klang kalt und ironisch, der bittere Tonfall widerspiegelte die schreckliche Enttäuschung, die er erlitten hatte. Eine solch entsetzliche Ernüchterung, das Zerbrechen lebenslang gehegter Hoffnungen und Sehnsüchte, ein solch jähes Entwurzeln uralter Traditionen hätte eine weitaus dramatischere Reaktion seitens des Thark entschuldigt.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Es tut mir leid«. Dem gab es nichts hinzuzufügen. »John Carter, denk an die unzähligen Milliarden von Barsoomiern, die seit Ewigkeiten freiwillig die Reise entlang des grausamen Flusses antreten, nur um den unbarmherzigen, schrecklichen Kreaturen in die Klauen zu fallen, die uns heute angegriffen haben. Einer alten Legende nach soll einmal ein roter Mann vom Ufer des Verlorenen Meeres von Korus im Tal Dor zurückgekehrt und den Weg entlang des geheimnisvollen Flusses Iss zurückgegangen sein. Dem Bericht nach beging er Gotteslästerung, als er von entsetzlichen Untieren erzählte, die sich am Ufer des Verlorenen Meeres auf jeden Barsoomier stürzten und ihn verschlangen, sobald er am Ende seiner Reise angekommen war, dort, wo er gehofft hatte, Liebe, Frieden und Glückseligkeit zu finden. Unsere Vorfahren töteten den Gotteslästerer, denn der Tradition zufolge soll jeder sterben, der vom geheimnisvollen Fluß zurückkehrt. Doch nun wissen wir, daß es keine Blasphemie war, sondern die reine Wahrheit, und daß der Mann nur das schilderte, was er erlebt hatte. Was nützt es uns, John Carter, von hier zu fliehen, um dann als Gotteslästerer hingestellt zu werden? Wir stehen zwischen dem wilden Thoat mit der Gewißheit und dem tollwütigen Zitidar als Fakt – wir können keinem von beiden entkommen.«
»Auf der Erde sagen wir dazu, wir befänden uns zwischen Scylla und Charybdis«, entgegnete ich, wobei ich angesichts unserer Lage unwillkürlich lächeln mußte.
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Zumindest haben wir die Gewißheit, zu wissen, daß derjenige, der uns einmal besiegt, mehr Verluste erleiden wird, als er sich vorstellen kann. Weißer Affe oder Pflanzenmensch, grüner oder roter Barsoomier, wer auch immer den letzten Tribut von uns verlangt, wird erfahren, daß es viele Menschenleben kostet, gleichzeitig John Carter, den Prinz des Hauses von Tardos Mors, und Tars Tarkas, den Jeddak von Thark, auszulöschen.«
Sein düsterer Humor brachte mich zum Lachen. Er fiel in mein Gelächter ein, ließ jenes seltene Lachen ertönen, das ein Zeichen echten Vergnügens war, wodurch sich der wilde Anführer der Thark von den anderen Angehörigen seines Volkes auszeichnete.
»Aber nun zu dir, John Carter«, rief er aus. »Wenn du nicht die ganzen Jahre hier gewesen bist, wo warst du dann, und wie kommt es, daß ich dich heute hier antreffe?«
»Ich war wieder auf der Erde«, entgegnete ich. »Zehn lange Erdenjahre habe ich darum gebetet und gehofft, daß man mich eines Tages zu eurem finsteren, alten Planeten ruft, für den ich trotz seiner grausamen und schrecklichen Gepflogenheiten Liebe empfinde, mehr noch als für jene Welt, in der ich geboren wurde. Zehn Jahre führte ich ein Dasein voller Ungewißheit und quälender Zweifel, ob Dejah Thoris noch lebte. Schließlich fand ich zum ersten Mal in all diesen Jahren meine Gebete erhört und meinem Warten ein Ende gesetzt. Doch eine grausame Laune des Schicksals verschlägt mich auf einen winzigen Landstrich auf Barsoom, von wo es kein Entkommen zu geben scheint, und wenn, dann zu einem Preis, mit dem die letzte Hoffnung schwindet, meine Prinzessin in diesem Leben noch einmal zu Gesicht zu bekommen – denn du hast heute erlebt, mit welch bedauernswerter Sinnlosigkeit der Mensch sich nach einem Jenseits sehnt. Nur eine knappe halbe Stunde, bevor ich Zeuge deines Kampfes gegen die Pflanzenmenschen wurde, stand ich noch am mondbeschienenen Ufer eines breiten Flusses an der Ostküste eines der gesegnetsten Länder der Erde. Nun habe ich deine Frage erschöpfend beantwortet, mein Freund. Glaubst du mir?«
»Ja, obwohl ich es nicht so recht begreife«, entgegnete Tars Tarkas.
Während unserer Unterhaltung hatte ich mir unsere Umgebung genauer angesehen. Das Gemach war vielleicht zweihundert Fuß lang und halb so breit. Gegenüber dem verhängnisvollen Portal befand sich eine weitere Tür in der Mitte der Wand.
Man hatte den Felsen innen ausgehöhlt, die Wände schimmerten zumeist matt golden im trüben Licht, das von einem winzigen Radiumleuchter von der Deckenmitte ausging und sich in der Unermeßlichkeit des Raumes verlor. Große Teile der goldenen Wände und der Decke bestanden aus glänzenden Rubin-, Smaragd- und Diamantblöcken. Der Boden schien aus einem anderen, sehr harten Material zu sein, er war abgewetzt und glatt wie Glas. Abgesehen von den beiden Türen konnte ich keinen anderen Zugang entdecken, und da ich eine der beiden versperrt wußte, trat ich auf die andere zu.
Als ich die Hand ausstreckte, um nach dem Knauf zu tasten, ertönte abermals das rohe und höhnische Gelächter, diesmal so dicht neben mir, daß ich unwillkürlich zurückschrak und mein großes Schwert fester packte.
Dann erklang aus der anderen Ecke des Raumes eine hohle Stimme: »Es gibt keine Hoffnung. Es gibt keine Hoffnung. Es gibt für die Toten keine Wiederkehr. Es gibt für die Toten keine Wiederkehr, denn es gibt keine Wiederauferstehung. Hoffet nicht, denn es gibt keine Hoffnung.«
Sofort blickten wir zu der Stelle, von der die Stimme zu kommen schien, konnten jedoch niemanden sehen. Ich muß gestehen, daß mir kalte Schauer den Rücken hinunterliefen und sich mir jedes einzelne Härchen am Haaransatz aufrichtete, wie bei einem Hund, dem sich das Fell sträubt, wenn er des Nachts jene unheimlichen Dinge sieht, die dem Auge des Menschen verborgen bleiben.
Ich stürtzte auf die klagende Stimme zu, doch sie war verstummt, bevor ich an der Wand angekommen war. Dann tönte es aus der anderen Ecke schrill und durchdringend: »Ihr Narren! Glaubtet ihr, ihr könntet den ewigen Gesetzen von Leben und Tod trotzen? Wolltet ihr die geheimnisvolle Issus, die Göttin des Todes, um ihre rechtmäßigen Pflichten bringen? Hat ihr mächtiger Bote, der uralte Iss, euch nicht auf euer Geheiß mit bleiernen Armen zum Tal Dor getragen? Glaubtet ihr, Narren, daß Issus ihr Eigentum aufgeben will? Glaubtet ihr zu entkommen, wo dies in all den unzähligen Jahrhunderten nur einer einzigen Seele gelungen ist? Geht den Weg zurück, den ihr gekommen seid. Vertraut euch den barmherzigen Rachen der Kinder des Lebensbaumes oder den strahlenden Zähnen der großen weißen Affen an, denn dort wird euer Leid ein schnelles Ende finden. Versucht ihr jedoch weiter, das Labyrinth der Goldenen Felsen des Gebirges Otz zu durchstreifen und die Schutzwälle der unbezwinglichen Festungen der Heiligen Therns zu überwinden, wird euch der Tod in seiner schrecklichsten Form ereilen, ein derart entsetzlicher Tod, daß sogar die Heiligen Therns, für die sowohl das Leben als auch der Tod kein Geheimnis mehr bergen, Augen und Ohren verschließen, um seine Grausamkeit nicht mitansehen und die entsetzlichen Schreie seiner Opfer nicht hören zu müssen. Kehrt um, ihr Narren! Geht den Weg zurück, den ihr gekommen seid.«