»Was ist denn passiert?«, fragte Sandman und verachtete sich, weil ihm das Gespräch entglitten war.
»Ich war dabei, sie zu malen«, sagte Corday. »Der Earl of Avebury wollte ein Porträt seiner Frau und hatte Sir George damit beauftragt.«
»Er beauftragte Sir George, aber Sie malten es?« Sandman klang skeptisch. Schließlich war Corday erst achtzehn, während Sir George Phillips als einziger Rivale von Sir Thomas Lawrence gefeiert wurde.
Corday seufzte, als stelle Sandman sich absichtlich begriffsstutzig an. »Sir George trinkt«, sagte er wütend. »Er fängt zum Frühstück mit Rum und Sirup an und säuft bis zum Abend, weshalb seine Hände zittern. Er trinkt also, und ich male.«
Sandman wich auf den Korridor zurück, um dem Gestank des ungeleerten Nachttopfs in der Zelle zu entgehen. Er fragte sich, ob er vielleicht naiv sei, weil er Corday seltsam glaubwürdig fand. »Sie malten in Sir Georges Atelier?« Er fragte nicht aus Interesse, sondern um das Schweigen zu brechen.
»Nein«, antwortete Corday. »Ihr Mann wollte ihr Schlafzimmer als Kulisse für das Porträt, also habe ich da gemalt. Wissen Sie, wie viel Mühe das macht? Sie müssen eine Staffelei, Leinwand, Kreide, Ölfarben, Lappen, Stifte, Abdecktücher, Mischtiegel und noch mehr Lappen mitnehmen. Aber der Earl of Avebury bezahlte schließlich dafür.«
»Wie viel?«
»Was immer Sir George herausschlagen konnte. Achthundert Guineen? Neunhundert? Mir hat er hundert angeboten.« Corday klang verbittert über das Honorar, auch wenn es Sandman wie ein Vermögen erschien.
»Ist es üblich, ein Porträt im Schlafzimmer einer Dame zu malen?« Sandman war ehrlich erstaunt. Er konnte sich vorstellen, dass eine Frau sich in einem Salon oder unter einem Baum in einem großen, sonnigen Garten malen ließ, aber das Schlafzimmer erschien ihm als überaus verruchte Wahl.
»Es sollte ein Boudoirporträt werden«, sagte Corday, und obwohl Sandman diesen Begriff noch nie gehört hatte, konnte er sich vorstellen, was er bedeutete. »Sie sind sehr in Mode, weil heutzutage alle Frauen aussehen wollen wie Canovas Pauline Bonaparte.«
Sandman runzelte die Stirn. »Sie verwirren mich.«
Angesichts solcher Unwissenheit hob Corday flehend den Blick gen Himmel. »Der Bildhauer Canova hat ein berühmtes Bild von der Schwester des Kaisers gemalt, und jede Schönheit in Europa möchte nun in der gleichen Pose dargestellt werden. Die Frau liegt auf einer Chaiselongue, in der linken Hand einen Apfel, den Kopf auf die rechte gestützt.« Corday demonstrierte die Pose, was Sandman peinlich fand. »Entscheidend ist, dass die Frau von der Taille aufwärts nackt ist. Und von der Taille abwärts weitgehend ebenfalls.«
»Die Countess war also nackt, als Sie sie gemalt haben?«, fragte Sandman.
»Nein.« Corday zögerte und zuckte dann die Achseln. »Sie sollte nicht wissen, dass sie nackt gemalt wurde, sie trug also einen Morgenmantel und ein Morgenkleid. Für die Brüste hätten wir dann ein Modell im Studio genommen.«
»Sie wusste nichts davon?« Sandman konnte es nicht glauben.
»Ihr Mann wollte ein Porträt«, sagte Corday ungeduldig, »und er wollte sie nackt, und weil sie das abgelehnt hätte, belog er sie. Gegen ein Boudoirporträt hatte sie nichts einzuwenden, aber sie hätte sich nicht vor jedem entblättert, also wollten wir es fälschen. Ich war erst bei den Vorarbeiten, den Zeichnungen und Farbproben. Kohle auf Leinwand mit ein paar Farbtupfern, den Farben der Bettdecke, der Tapete, der Haut und Haare Ihrer Ladyschaft, dem Biest.«
Sandman sah einen Hoffnungsschimmer, denn das letzte Wort klang bösartig, wie er es als Äußerung eines Mörders über sein Opfer erwartete. »Sie mochten sie nicht?«
»Mögen? Ich verachtete sie!«, spie Corday aus. »Sie war eine aufgedonnerte Halbweltdame!« Er meinte, sie war eine Courtisane, eine hochklassige Prostituierte. »Ein Flittchen, nichts weiter«, beschimpfte Corday sie heftig. »Aber nur weil ich sie nicht mochte, habe ich sie noch lange nicht vergewaltigt oder ermordet. Außerdem, glauben Sie wirklich, eine Frau wie die Countess of Avebury würde zulassen, dass ein Malerlehrling mit ihr allein wäre? Wenn ich da war, blieb die ganze Zeit eine Zofe als Anstandsame dabei. Wie hätte ich sie da vergewaltigen oder ermorden sollen?«
»Es war eine Zofe da?«, fragte Sandman.
»Selbstverständlich«, bekräftigte Corday wütend, »eine hässliche Kuh namens Meg.«
Sandman war nun vollends verwirrt. »Meg hat vermutlich bei Ihrem Prozess ausgesagt?«
»Meg ist verschwunden«, sagte Corday müde, »deshalb werde ich gehenkt.« Er funkelte Sandman wütend an. »Sie glauben mir nicht, oder? Sie denken, ich habe das alles erfunden. Aber es war eine Zofe da, und sie hieß Meg, sie war dabei, und als es zum Prozess kam, war sie nicht aufzutreiben.« Bisher war sein Ton abwehrend, aber nun brach er plötzlich in Tränen aus. »Tut es weh?«, fragte er. »Ich weiß, dass es wehtut. Es muss!«
Sandman starrte auf die Fliesen. »Wo war das Haus?«
»Mount Street.« Corday schluchzte zusammengekauert. »Das ist gleich neben …«
»Ich weiß, wo die Mount Street ist«, fiel Sandman ihm etwas zu scharf ins Wort. Cordays Tränen waren ihm peinlich, aber ihn bedrängten Fragen, die inzwischen von echter Neugier getragen waren. »Und Sie geben zu, dass Sie an dem Tag, an dem die Countess ermordet wurde, in ihrem Haus waren?«
»Ich war da, kurz bevor sie ermordet wurde!«, sagte Corday. »Es gab eine Hintertreppe für die Dienstboten mit einer Tür, an der wurde geklopft. Ein Klopfzeichen, ein Signal, die Countess war ganz aufgeregt und drängte, ich sollte sofort gehen. Meg brachte mich über die vordere Treppe hinunter an die Haustür. Ich musste alles da lassen, Farben, Leinwand, alles, und deshalb waren die Polizisten überzeugt, dass ich schuldig sei. Innerhalb einer Stunde kamen sie in Sir Georges Atelier und nahmen mich fest.«
»Wer hatte die Polizei gerufen?«
Corday zuckte die Achseln. »Meg? Ein anderer Dienstbote?«
»Und die Polizisten fanden Sie in Sir Georges Atelier. Wo ist das?«
»Sackville Street. Über dem Juwelier Gray.« Corday starrte Sandman mit roten Augen an. »Haben Sie ein Messer?«
»Nein.«
»Falls Sie eins haben, möchte ich Sie bitten, es mir zu geben. Geben Sie es mir! Ich würde mir lieber die Adern aufschneiden, als hier zu bleiben! Ich habe nichts getan, rein gar nichts! Trotzdem werde ich den ganzen Tag geschlagen und misshandelt, und in einer Woche werde ich aufgehängt. Warum noch eine Woche warten? Ich bin schon jetzt in der Hölle. Ich bin in der Hölle!«
Sandman räusperte sich. »Warum bleiben Sie nicht hier oben in der Zelle? Hier wären Sie allein.«
»Allein? Ich bliebe keine zwei Minuten allein! Unten ist es sicherer, wo zumindest Zeugen dabei sind.« Corday wischte sich die Augen mit dem Ärmel. »Was machen Sie jetzt?«
»Jetzt?« Sandman war verdutzt. Er hatte mit einem Geständnis gerechnet und vorgehabt, anschließend ins Wheatsheaf zu gehen und einen respektvollen Bericht zu schreiben. Doch nun war er völlig aus der Fassung gebracht.
»Sie sagten, der Innenminister hat Sie mit Nachforschungen beauftragt. Werden Sie nachforschen?« Cordays Blick forderte ihn heraus, doch dann sank sein Mut. »Ihnen ist es gleichgültig. Allen ist es gleichgültig!«
»Ich werde Nachforschungen anstellen«, sagte Sandman knurrig. Plötzlich konnte er den Gestank, die Tränen und das Elend nicht mehr ertragen, machte kehrt und lief die Treppe hinunter. Als er in die etwas frischere Luft des Presshofs kam, überfiel ihn für einen Augenblick die Angst, die Wärter könnten sich weigern, ihm das Tor zum Tunnel zu öffnen, aber das taten sie natürlich nicht.
Der Pförtner schloss seinen Schrank auf und holte Sandmans Uhr heraus, eine goldene Breguet, die Eleanor ihm geschenkt hatte. Sandman hatte sie ihr zusammen mit ihren Briefen zurückgeben wollen, aber sie hatte beides nicht angenommen. »Haben Sie Ihren Mann gefunden, Sir?«, erkundigte sich der Pförtner.