»Ihre Ladyschaft ist weg«, sagte der Nachtwächter lachend, »hinüber.«
»Hier gibt es alles darüber zu lesen«, rief die Straßenhändlerin zuversichtlich.
Da in der Mount Street offensichtlich nichts weiter in Erfahrung zu bringen war, ging Sandman wieder. Es gab also eine Meg? Das bestätigte Cordays Darstellung zumindest teilweise, aber der Malerlehrling konnte den Mord dennoch begangen haben, als die Zofe nicht im Zimmer war. Sandman fiel die Versicherung des Gefängnispförtners ein, alle Schurken seien Lügner, und er fragte sich, ob es unverzeihlich naiv von ihm sei, an Cordays Schuld zu zweifeln. Der Elende war schließlich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren verurteilt worden, und so vehement Lord Alexander auch gegen die britische Justiz wüten mochte, fiel es Sandman schwer, die herrschende Ordnung in seinem Heimatland rundweg abzutun. Er hatte in den vergangenen zehn Jahren für sein Land gegen eine Tyrannei gekämpft, die Lord Alexander bewunderte. Bei seinem Freund hing ein Porträt Napoleons neben George Washington und Thomas Paine an der Wand. Nach Sandmans Eindruck fand Lord Alexander an nichts Englischem Gefallen, bevorzugte alles Ausländische und würde sich von all dem Blut, das von der Guillotine getropft war, nie überzeugen lassen, dass Freiheit und Gleichheit unvereinbar waren, was Sandman völlig offenkundig zu sein schien. Daher waren sie also anscheinend dazu verurteilt, unterschiedlicher Meinung zu sein. Lord Alexander kämpfte für Gleichheit, während Sandman an Freiheit glaubte, und für Sandman war es unvorstellbar, dass ein frei geborener Engländer keinen fairen Prozess bekommen sollte, doch zu eben dieser Ansicht veranlasste ihn die Tatsache, dass er mit einer Untersuchung betraut war. Bequemer wäre es, Corday für einen Lügner zu halten, aber Meg existierte ohne Zweifel, und ihre Existenz brachte Sandmans unerschütterlichen Glauben an die britische Justiz ins Wanken.
In diese aufrührerischen Gedanken vertieft, ging er auf den Burlington Gardens ostwärts und nahm das Rattern der Pferdegespanne kaum wahr, die spritzend durch den Regen fuhren. Als er bemerkte, dass am Ende der Straße ein Steinmetz mit Fuhrwerk und Gerüst den Durchgang versperrte, bog er in die Sackville Street, wo er in die Gosse ausweichen musste, weil sich unter dem Vordach des Juweliers Gray ein Grüppchen gesammelt hatte. Die meisten suchten Schutz vor dem Regen, aber manche bewunderten die Rubine und Saphire eines prachtvollen Halsbandes, das in einem vergoldeten Käfig im Schaufenster ausgestellt war. Gray. Der Name erinnerte Sandman an etwas, und so blieb er auf der Straße stehen und schaute an dem Vordach vorbei nach oben.
»Sind Sie lebensmüde?«, brüllte ein Fuhrmann Sandman zu und zerrte an seinen Zügeln. Sandman achtete nicht auf ihn. Corday hatte gesagt, in diesem Haus habe Sir George Phillips sein Atelier, aber Sandman entdeckte in den Fenstern über dem Juweliergeschäft keinerlei Hinweis. Er ging wieder auf den Bürgersteig und fand neben dem Laden einen separaten Hauseingang, aber kein Schild, das erkennen ließ, wer hinter der grün gestrichenen Tür mit dem blank polierten Messingklopfer wohnte oder arbeitete. Ein einbeiniger Bettler, dessen Gesicht von Schwären entstellt war, saß im Eingang. »Eine Münze für einen alten Soldaten, Sir?«
»Wo hast du gedient?«, fragte Sandman.
»Portugal, Sir, Spanien, Sir, und Waterloo, Sir.« Der Bettler klopfte auf seinen Beinstumpf. »Das habe ich in Waterloo verloren, Sir. Hab alles mitgemacht, Sir. Wahrhaftig.«
»Welches Regiment?«
»Artillerie, Sir. Schütze, Sir.« Er klang etwas nervös.
»Welches Bataillon, welche Kompanie?«
»Achtes Bataillon, Sir.« Nun war dem Bettler erkennbar unbehaglich, seine Antwort war wenig überzeugend.
»Kompanie?«, fragte Sandman. »Und der Name des Kompaniechefs?«
»Hau ab«, schnaubte der Mann.
»Ich war nicht lange in Portugal«, sagte Sandman, »aber in Spanien habe ich gekämpft und in Waterloo.« Er hob den Türklopfer und klopfte laut. »In Spanien haben wir schwere Zeiten durchgemacht, aber Waterloo war bei weitem das Schlimmste, ich habe große Sympathien für alle, die da gekämpft haben.« Er klopfte noch einmal. »Aber ich kann wütend werden, verdammt wütend, wenn Männer behaupten, da gekämpft zu haben, die gar nicht da waren! Das ärgert mich maßlos!«
Der Bettler kroch vor Sandmans Zorn davon, als die grüne Tür sich öffnete und ein schwarzer Page von dreizehn oder vierzehn Jahren vor Sandmans wütender Miene zurückschreckte. Offenbar befürchtete er Arger, denn er versuchte sofort, die Tür zu schließen, aber Sandman schob seinen Fuß in den Türspalt. Hinter dem Jungen lag eine elegante Diele und ein schmales Treppenhaus. »Ist hier das Atelier von Sir George Phillips?«, fragte Sandman.
Der Page, der eine schäbige Livree und eine Perücke trug, die dringend hätte gepudert werden müssen, stemmte sich gegen die Tür, kam aber gegen Sandmans Kraft nicht an. »Wenn Sie nicht angemeldet sind, sind Sie nicht willkommen«, sagte der Junge.
»Ich bin angemeldet.«
»Wirklich?« Überrascht ließ der Junge die Tür los, die plötzlich aufschwang und Sandman stolpern ließ. »Sind Sie wirklich angemeldet?«, fragte der Junge noch einmal.
»Ich komme im Auftrag des Viscount Sidmouth«, erklärte Sandman großspurig.
»Wer ist da, Sammy?«, rief eine Stimme von oben.
»Er sagt, er kommt von Viscount Sidmouth.«
»Dann lass ihn herauf! Lass ihn herauf! Wir sind nicht zu stolz, Politiker zu malen. Wir verlangen von den Schweinehunden nur mehr.«
»Soll ich Ihnen den Mantel abnehmen, Sir?«, fragte Sammy mit einer flüchtigen Verneigung.
»Ich behalte ihn an.« Sandman schob sich in den engen Flur, der mit modischer Streifentapete und einem kleinen Lüster ausgestattet war. Sir Georges reiche Auftraggeber sollten von einem livrierten Pagen in einem mit Teppichen ausgelegten Entree empfangen werden. Als Sandman die Treppe hinaufging, störte Terpentingestank das elegante Erscheinungsbild, und der Raum in der ersten Etage, der ebenso vornehm wirken sollte wie die Diele, versank in Unordnung. Es war ein Salon, in dem Sir George seine fertigen Gemälde präsentieren konnte, der aber mittlerweile wohl eher als Abstellkammer für halb fertige Arbeiten, farbverkrustete Paletten, eine verschimmelte Wildpastete, alte Pinsel, Lappen und einen Haufen Männer- und Frauenkleider diente. Sammy deutete auf eine zweite Treppe, die ins Obergeschoss führte. »Möchten Sie Kaffee?«, fragte er auf dem Weg zu einer Türöffnung mit Vorhang, der offenbar eine Küche verbarg. »Oder Tee?«
»Tee wäre angenehm.«
Da man im Obergeschoss die Zimmerdecke entfernt und zwischen die nun sichtbaren Dachbalken Fenster eingebaut hatte, gewann Sandman den Eindruck, er steige ins Licht hinauf. Regen prasselte auf die Dachpfannen und tropfte so reichlich durch, dass überall im Atelier Eimer aufgestellt waren. Ein schwarzer dickbauchiger Ofen beherrschte die Raummitte, diente aber im Augenblick lediglich als Ablage für eine Flasche Wein und ein Glas. Neben dem Ofen stand eine Staffelei mit einer riesigen Leinwand, und auf einem Podest am anderen Ende des Raumes standen ein Marineoffizier und ein Matrose mit einer Frau Modell. Die Frau kreischte, als Sandman erschien, und griff hastig nach einem graubraunen Tuch auf einer Kiste, auf der der Marineoffizier saß.
Es war Sally Hood. Sandman verneigte sich vor ihr, seinen nassen Hut in der Hand. Sie hielt einen Dreizack und trug außer einem Messinghelm kaum etwas. Eigentlich trug sie gar nichts, wie Sandman bemerkte, aber ihre Hüften und Schenkel waren weitgehend von einem ovalen Schild verdeckt, auf das mit flüchtigen Kohlestrichen die britische Flagge skizziert war. Sie stellte wohl Britannia dar, erkannte Sandman. »Sie weiden Ihre Augen an Miss Hoods Brüsten. Wieso auch nicht? Im Vergleich zu anderen sind sie wunderbar, der Inbegriff von Titten.«