»Lesen Sie zuerst das hier«, sagte Sandman und reichte dem Pfarrer das Schreiben des Innenministers, das ihm gerade rechtzeitig eingefallen war. Meg spürte, dass dieser Brief ihr Schwierigkeiten bereiten könnte, und versuchte, dem Pfarrer das Blatt aus der Hand zu reißen. Dieser war von dem Siegel des Innenministeriums stark beeindruckt und trat beiseite, um das zerknitterte Schreiben zu lesen. »Aber was hat der Viscount Sidmouth mit ihr zu tun, wenn sie verrückt ist?«, fragte er, als er fertig gelesen hatte.
»Ich bin nicht verrückt!«, protestierte Meg.
»In Wahrheit wird sie wegen Mordes gesucht«, flüsterte Sandman dem Pfarrer zu, »aber ich möchte Ihre Pfarrkinder nicht erschrecken. Es ist doch sicher besser, wenn sie glauben, sie sei verrückt, oder?«
»Völlig richtig, völlig richtig.« Beunruhigt drückte der Pfarrer Sandman den Brief in die Hand, als sei er vergiftet. »Aber vielleicht sollten Sie ihr besser die Hände fesseln?«
»Haben Sie gehört?«, fragte Sandman Meg. »Er sagt, ich soll Ihnen die Hände fesseln, und das tue ich auch, wenn Sie noch weiter Lärm schlagen.«
Sie musste sich geschlagen geben und fluchte aufs Übelste, was Sandmans Behauptung für den Pfarrer nur noch glaubwürdiger machte. Mit seiner Serviette, die er durch die Luft schwenkte wie eine Fliegenklatsche, scheuchte er seine Pfarrkinder von dem fluchenden Mädchen fort. Als Meg sah, dass ihr Flehen um Freiheit sinnlos war, stieg sie aus Angst, Sandman könne sie fesseln, falls sie weiter widerspenstig wäre, auf eine Steintränke und von dort aufs Pferd. Sie fluchte immer noch, als sie das Dorf verließen.
Sie trotteten weiter. Alle waren müde und gereizt, die Hitze und der lange Weg zehrten an Sandmans Kräften. Seine Kleider waren klebrig und schmutzig, und er spürte eine Blase an der rechten Ferse. Er humpelte immer noch, aber wie alle Infanteristen war er fest überzeugt, dass eine Verstauchung sich am besten kurieren ließ, indem man einfach weiter marschierte. Es war allerdings lange her, seit er so weite Fußmärsche zurückgelegt hatte. Sally versuchte ihn zu überreden zu reiten, aber da er die Pferde schonen wollte, schüttelte er nur den Kopf und verfiel in den geistlosen Trott des Soldaten, nahm die Landschaft kaum wahr und hing Erinnerungen an die langen, staubigen Straßen Spaniens nach, an das Scharren der Stiefel seiner Kompanie, an den Weizen, der am Straßenrand wuchs, wo Samenkörner aus den Verpflegungswagen gefallen waren. Auch damals war er selten geritten und hatte sein Pferd lieber geschont.
»Was passiert, wenn wir nach London kommen?«, brach Berrigan das Schweigen, als sie durch ein weiteres Dorf kamen.
Sandman blinzelte, als sei er eben erst aufgewacht. Die Sonne ging bereits unter, und die Kirchenglocken läuteten zum Angelus. »Meg wird die Wahrheit sagen«, antwortete er nach einer Weile. Sie schnaubte verächtlich, und Sandman musste sein Temperament zügeln. »Meg«, sagte er ruhig, »Sie wollen doch zurück in das Haus des Marquess, nicht wahr? Sie wollen doch zurück zu Ihren Hühnern?«
»Das wissen Sie doch«, fuhr sie ihn an.
»Das können Sie auch, aber zuerst müssen Sie einen Teil der Wahrheit sagen«, sagte er.
»Einen Teil?«, fragte Sally gespannt.
»Einen Teil der Wahrheit«, wiederholte Sandman. Ohne es zu merken, hatte er über sein Dilemma nachgedacht und plötzlich schien ihm die Lösung klar auf der Hand zu liegen. Man hatte ihn nicht beauftragt, den Mörder der Countess zu finden, sondern festzustellen, ob Corday schuldig war oder nicht. Mehr würde er dem Innenminister also auch nicht mitteilen. Meg sagte er: »Es spielt keine Rolle, wer die Countess getötet hat. Wichtig ist nur, dass Sie wissen: Corday war es nicht. Sie haben ihn aus dem Schlafzimmer geführt, als sie noch lebte, und mehr brauchen Sie dem Innenminister nicht zu sagen.«
Sie starrte ihn an.
»Das ist doch die Wahrheit, nicht wahr?«, fragte Sandman. Als sie immer noch nichts sagte, seufzte er: »Meg, Sie können zurück in das Haus des Marquess. Sie können mit dem Rest Ihres Lebens anfangen, was Sie wollen, aber zuerst müssen Sie diesen kleinen Teil der Wahrheit sagen. Sie wissen doch, dass Corday unschuldig ist, nicht wahr?«
Schließlich und endlich nickte sie. »Ich habe ihn zur Vordertür gebracht«, sagte sie leise.
»Und die Countess lebte noch?«
»Natürlich lebte sie noch«, antwortete Meg. »Sie hat ihm aufgetragen, am nächsten Tag wiederzukommen, aber da hatte man ihn schon verhaftet.«
»Und das werden Sie auch dem Innenminister sagen?«
Sie zögerte, nickte dann aber. »Das werde ich ihm sagen, aber mehr auch nicht.«
»Danke«, erwiderte Sandman.
Ein Meilenstein zeigte, dass sie noch achtzehn Meilen von Charing Cross trennten. Der Rauch der Stadt hing wie bräunlicher Nebel am Himmel, während die Themse zwischen den dunkler werdenden Hügeln schimmerte wie eine Messerklinge. Sandmans Müdigkeit hatte sich verflüchtigt. Ein Teil der Wahrheit dürfte genügen, dachte er, und damit wäre seine Aufgabe erfüllt, Gott sei Dank.
Jemmy Botting, Henker von England, kam am frühen Abend nach Old Bailey, um das fertige Galgengerüst zu überprüfen. Ein oder zwei Passanten, die ihn erkannten, riefen ihm scherzhafte Grüße zu, aber er beachtete sie nicht.
Es gab wenig zu inspizieren. Er musste darauf vertrauen, dass die Balken ordentlich verzapft und fest genagelt und der Stoff sicher angebracht waren. Das Podest schwankte ein bisschen, aber das tat es immer, und die Bewegung war nicht schlimmer als an Deck eines Schiffes in einer leichten Dünung. Er zog den Pflock heraus, der den Trägerbalken der Falltür sicherte, ging in den dämmrigen Raum unter dem Podest und zog an dem Seil, um den Träger beiseite zu schwenken. Er gab mit leichtem Beben nach, die Falltür klappte herunter und die Abendsonne schien herein.
Das Beben gefiel Botting ganz und gar nicht. Noch hatte niemand auf der Falltür gestanden, aber der Balken hatte sich nur widerstrebend bewegt. Er öffnete seine Tasche und holte einen Tiegel Talkum heraus, den der Schiffsausrüster ihm geschenkt hatte. Er kletterte an dem Holzgerüst hinauf und fettete den Balken ein, bis er sich glitschig anfühlte, hob die Falltür an und schob den Träger unbeholfen wieder an seinen Platz. Zwei Ratten beobachteten ihn, und er knurrte sie an. Er stieg wieder hinunter auf das Pflaster von Old Bailey und zog noch einmal an dem Seil. Dieses Mal glitt der Balken reibungslos beiseite, die Falltür klappte herunter und schlug gegen zwei Stützen. »Jetzt klappt’s, was?«, sagte Botting zu den Ratten, die sich durch seine Anwesenheit nicht stören ließen.
Er schloss die Falltür, schob den Träger unter, steckte das Talkum wieder in seine Tasche und stieg auf das Podest, wo er zunächst den Sicherungspflock wieder einsetzte, vorsichtig den Halt der Falltür prüfte, indem er einen Fuß darauf stellte und das Bein langsam belastete. Er wusste, dass sie gesichert war und nicht unter ihm nachgeben würde, aber er prüfte sie dennoch. Er wollte schließlich nicht zum Gespött ganz Londons werden, indem er einen Gefangenen auf eine Falltür stellte, die sich öffnete, bevor er dem Mann den Strick um den Hals gelegt hatte. Bei der Vorstellung musste er grinsen. Zufrieden, dass alles in Ordnung war, ging er an die Schuldnerpforte und klopfte laut. Im Gefängnis würde er ein Abendessen und anschließend eine Schlafkammer über der Pförtnerloge bekommen. »Hast du Rattengift?«, fragte er den Schließer, der die Tür öffnete. »Da sind Ratten so groß wie Füchse unter dem Galgen. Das Podest steht noch keine zwei Stunden, und schon sind die verdammten Ratten da.«
»Überall sind Ratten«, sagte der Wärter und schloss die Tür.
Da es selbst an diesem warmen Abend in den Kellergewölben des Gefängnisses Newgate kalt war, zündete man ein Kohlenfeuer in dem kleinen Kamin an, bevor Charles Corday und der andere Verurteilte in die Todeszelle gebracht wurden. Der Kamin zog anfangs nicht richtig und der Rauch quoll in die Zelle. Sobald die Esse warm wurde, klärte sich die Luft, aber der Rauchgestank blieb. Man stellte einen Eimer als Nachtgeschirr in die Ecke der Zelle, aber keinen Wandschirm, hinter den sich die Gefangenen für ihr Geschäft hätten zurückziehen können. Zwei eiserne Pritschen mit Strohmatratzen kamen an die Wand, und ein Tisch mit Stühlen wurde für die Wärter aufgestellt, die die Gefangenen über Nacht bewachen sollten. An Eisenhaken hängte man Lampen auf. In der Abenddämmerung brachte man die beiden Männer, die am nächsten Morgen sterben sollten, in die Zelle und gab ihnen eine Henkersmahlzeit aus Erbsbrei, Schweinekoteletts und Kohl. Der Gefängnisverwalter kam während des Essens, um nach ihnen zu sehen, und während er wartete, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatten, dachte er, wie verschieden die beiden Männer doch waren. Charles Corday war schmächtig, bleich und nervös, während Reginald Vendables ein hünenhafter Rohling mit dichtem, dunklem Bart und hartem Gesicht war, aber Corday hatte einen Mord begangen und Venables wurde für den Diebstahl einer Uhr gehängt.