»Dieser Mann ist Botting«, flüsterte der Ordinarius.
»Ein merkwürdiger Name für einen Henker«, sagte Lord Alexander taktlos laut. »Ketch, das wäre ein ordentlicher Name für einen Henker. Aber Botting, das klingt nach einer Viehseuche.«
Botting warf einen vernichtenden Blick zu dem großen rothaarigen Lord Alexander herüber, der von dieser Feindseligkeit nicht ganz ungerührt blieb, aber es war Lord Christopher, der einen Schritt zurückwich, vielleicht aus Angst vor dem bulligen Gesicht des Henkers, das von Warzen, Narben und Grützbeuteln entstellt und ständig unwillkürlichen Zuckungen ausgesetzt war. Botting bedachte die übrigen Gäste mit einem sardonischen Blick und schob eine Bank beiseite, um seine Ledertasche auf einen Tisch zu stellen. Wohl wissend, dass er beobachtet wurde, öffnete er die Schnallen seiner Tasche und holte vier Docken dünner, weißer Kordel heraus. Er legte sie auf den Tisch und zog zwei schwere Seile aus der Tasche, die an einem Ende eine Schlinge und am anderen eine Öse aufwiesen. Beide Seile legte er auf den Tisch, daneben zwei weiße Baumwollsäcke und trat geschickt einen Schritt zurück. »Guten Morgen, Sir«, begrüßte er den Gefängnisverwalter.
»Ach, Botting!« Die Überraschung im Ton des Verwalters sollte zeigen, dass er den Henker gerade erst bemerkt habe. »Einen schönen guten Morgen wünsche ich Ihnen ebenfalls.«
»Das ist es wahrhaftig, Sir«, sagte Botting. »Kaum ein Wölkchen am Himmel, kaum eins. Heute nur die beiden Kunden, Sir?«
»Nur die beiden, Botting.«
»Es sind ziemlich viele Leute da, nicht allzu viele, aber doch genug«, sagte Botting.
»Schön, schön«, sagte der Verwalter vage.
»Botting!«, schaltete Lord Alexander sich ein und ging auf ihn zu, wobei sein Klumpfuß schwer über die unebenen Bodendielen stampfte. »Sagen Sie, Botting, ist es wahr, dass Sie Adelige an einem seidenen Strang aufhängen?« Botting wirkte verblüfft, dass einer der Gäste des Gefängnisverwalters ihn ansprach, zumal eine so ungewöhnliche Erscheinung wie Reverend Lord Alexander Pleydell mit seinem roten Haarschopf, der Hakennase und der schlaksigen Gestalt. »Also?«, fragte Lord Alexander herrisch. »Stimmt das? Ich habe es gehört, aber in Fragen, die eine Hinrichtung durch den Strang betreffen, sind Sie ja sicher die fons et origo für zuverlässige Angaben. Finden Sie nicht auch?«
»Ein Seidenstrang, Sir?«, fragte Botting verständnislos.
»Mylord«, korrigierte der Ordinarius ihn.
»Mylord! Ha!«, sagte Botting, der seinen Gleichmut wieder fand und sich amüsiert vorstellte, dass Lord Alexander vielleicht an seine eigene Hinrichtung dachte. »Ich enttäusche Sie nur ungern, Mylord«, sagte er, »aber ich wüsste nicht, woher ich einen Seidenstrang bekommen sollte.« Botting strich über die Schlingen auf dem Tisch. »Das hier, das ist bester Bridport-Hanf, Mylord, der Beste, der zu haben ist, und guten Bridport-Hanf bekomme ich immer. Aber Seide? Das ist eine andere Sache, Mylord, ich wüsste nicht mal, wo ich danach suchen sollte. Nein, Mylord. Falls ich je das hohe Privileg hätte, einen Adeligen zu henken, würde ich es mit Bridport-Hanf machen, wie bei jedem anderen.«
»Völlig richtig, guter Mann«, strahlte Lord Alexander über die Gleichheitsbestrebungen des Henkers. »Gut! Vielen Dank.«
»Sie verzeihen, Mylord?« Der Verwalter bedeutete Lord Alexander, er möge den breiten Mittelgang zwischen den Tischen frei machen.
»Bin ich im Weg?« Lord Alexander klang überrascht.
»Nur im Augenblick, Mylord«, sagte der Verwalter, und gleich darauf hörte Lord Alexander das Klirren von Eisen und schlurfende Schritte. Die anderen Gäste erhoben sich mit feierlichen Mienen. Lord Christopher Carne wich einen Schritt zurück, noch bleicher als zuvor, und wandte das Gesicht zu der Tür, die auf den Presshof führte.
Als Erstes kam ein Wärter. Er grüßte den Verwalter, indem er sich mit dem Fingerknöchel an die Stirn tippte, und stellte sich neben einen niedrigen Holzblock, der auf dem Boden stand. Er hielt einen kräftigen Hammer und einen Meißel in der Hand, und Lord Alexander überlegte, welchem Zweck sie wohl dienen mochten, wagte aber nicht zu fragen. Die Gäste, die der Tür am nächsten standen, nahmen ihre Hüte ab, weil der Sheriff und sein Vertreter zwei Gefangene in den Aufenthaltsraum führten.
»Branntwein, Sir?« Ein Diener des Gefängnisverwalters trat zu Lord Christopher Carne.
»Danke.« Lord Christopher konnte den Blick nicht von dem schlanken, bleichen jungen Mann wenden, der als Erster mit schweren Fußeisen durch die Tür gekommen war. »Das«, sagte er zu dem Diener, »das ist Corday?«
»Ja, Mylord.«
Lord Christopher stürzte den Branntwein hinunter und griff nach einem zweiten.
Und die beiden Glocken, die Sturmglocke des Gefängnisses und die Glocke der Grabeskirche, begannen für die beiden Todgeweihten zu läuten.
Sandman hatte erwartet, dass ein Diener ihm die Tür des Hauses in der Great George Street öffnen würde, aber es war Sebastian Witherspoon, der Privatsekretär des Viscount Sidmouth, der verwundert die Augenbrauen hob. »Eine unpassende Zeit, Captain«, bemerkte Witherspoon und musterte erstaunt Sandmans arg mitgenommenes Äußeres und die ungepflegte Erscheinung seiner drei Begleiter. »Ich hoffe doch, Sie erwarten kein Frühstück für alle?«, sagte er voller Verachtung.
»Diese Frau kann bezeugen, dass Charles Corday nicht der Mörder der Countess of Avebury ist«, erklärte Sandman, ohne sich mit Höflichkeiten wie einer Begrüßung aufzuhalten.
Witherspoon tupfte sich die von Eigelb verschmierten Lippen mit einer Serviette ab. Er warf einen Blick auf Meg und zuckte die Achseln, als wolle er zu verstehen geben, dass ihre Zeugenaussage wertlos sei. »Das kommt äußerst ungelegen«, murmelte er.
»Ist Viscount Sidmouth da?«, fragte Sandman bestimmt.
»Wir sind bei der Arbeit, Sandman«, sagte Witherspoon streng. »Seine Lordschaft ist, wie Sie zweifellos wissen, Witwer, und seit seinem traurigen Verlust sucht er Trost in harter Arbeit. Er fängt früh an, arbeitet bis spät abends und duldet keine Störung.«
»Hier geht es um Arbeit«, sagte Sandman.
Witherspoon schaute noch einmal Meg an und schien erst jetzt ihr Aussehen zu bemerken. »Muss ich Sie daran erinnern, dass der Junge für schuldig befunden wurde und das Recht in einer Stunde seinen Lauf nehmen wird? Ich sehe wahrhaftig nicht, was sich zu diesem späten Zeitpunkt noch unternehmen ließe.«
Sandman trat von der Tür weg. »Grüßen Sie Lord Sidmouth von mir und richten Sie ihm aus, dass wir um eine Audienz bei der Königin ersuchen werden.« Er hatte keine Ahnung, ob die Königin ihn empfangen würde, aber er war sich völlig sicher, dass Witherspoon und der Innenminister sich bei der Königsfamilie nicht unbeliebt machen wollten, da sie Ehren und Pensionen zu vergeben hatte. »Ich glaube, Ihre Majestät hatte sich dieses Falles angenommen und wird sicher mit Interesse von Ihrer ritterlichen Haltung hören. Guten Tag, Witherspoon.«
»Captain!« Witherspoon machte die Tür weit auf. »Captain! Kommen Sie doch herein.«
Er führte sie in einen leeren Salon. Das Haus lag zwar in einer vornehmen Gegend nahe dem Parlamentsgebäude, strahlte aber etwas Provisorisches aus. Es war nicht ständig bewohnt, sondern wurde offensichtlich kurzfristig an Politiker wie Lord Sidmouth vermietet, die vorübergehend eine Bleibe suchten. Die einzigen Möbel im Salon waren zwei Polstersessel mit verblichenen Bezügen und ein schwerer Schreibtisch mit einem thronartigen Stuhl. Auf dem Schreibtisch lag ein Gebetbuch in Schmuckeinband neben einem unordentlichen Stapel Zeitungen, in denen Artikel mit Tinte eingekreist waren. Als sie allein in dem tristen Salon warteten, sah Sandman, dass es sich um Artikel über Aufstände handelte. In ganz Großbritannien gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Kornpreis und die Einführung von Maschinen in den Fabriken zu protestieren. »Manchmal denke ich, die moderne Welt ist ein sehr trauriger Ort«, sagte er.