»Gut, Junge, und jetzt geh zum Henker!«, sagte der Wärter. Charles Corday stöhnte verwundert, als er die ersten Schritte ohne Fußeisen ging. Er stolperte, konnte sich aber an einem Tisch abfangen.
»Ich weiß nicht«, sagte Lord Christopher Carne, brach aber abrupt ab.
»Was, Kit?«, fragte Lord Alexander aufmerksam.
Lord Christopher, der gar nicht gemerkt hatte, dass er gesprochen hatte, fuhr erschrocken auf, nahm sich dann aber zusammen. »Du sagst, es bestehen Zweifel an seiner Schuld?«, fragte er.
»Ja, wahrhaftig«, bestätigte Lord Alexander und zündete sich eine Pfeife an. »Sandman war sich der Unschuld des Jungen recht sicher, aber ich nehme an, dass sie sich nicht beweisen lässt. Leider, leider.«
»Wenn aber der wahre Mörder gefunden würde«, fragte Lord Christopher und starrte gebannt auf Corday, der zitternd vor dem Henker stand, »könnte der Mann dann für das Verbrechen vor Gericht gestellt werden, für das Corday bereits schuldig gesprochen und gehenkt wurde?«
»Eine sehr gute Frage«, sagte Lord Alexander begeistert, »und eine, auf die ich keine Antwort weiß. Aber ich denke mir, wenn der wahre Täter gefasst würde, müsste Corday posthum freigesprochen werden, findest du nicht auch, und man kann nur hoffen, dass ein solcher Freispruch im Himmel anerkannt und der arme Junge aus den niederen Regionen geholt wird.«
»Steh still, Junge«, knurrte Jemmy Botting Corday an. »Trink das, wenn du willst. Es hilft.« Er deutete auf einen Becher Branntwein, aber Corday schüttelte den Kopf. »Wie du willst, Junge, wie du willst«, sagte Botting, nahm eine der vier Kordeln und band Corday die Ellbogen so fest auf den Rücken, dass der Junge gezwungen war, die Brust vorzustrecken.
»Nicht zu fest, Botting«, wandte der Gefängnisverwalter ein.
»Früher hatte der Henker einen Helfer dafür«, murrte Botting. »Da war der Strangknecht für das Fesseln zuständig. Das war nicht meine Aufgabe.« Da er von Corday kein Trinkgeld bekommen hatte, legte er die erste Fessel besonders schmerzhaft an, lockerte sie aber nun ein wenig, bevor er Corday die Hände vor den Bauch band.
»Das ist für uns beide«, sagte Reginald Venables, der große, bärtige Gefangene, und warf eine Münze auf den Tisch. »Also lockere meinem Freund die Fesseln.«
Botting warf einen Blick auf die Münze, war von der Großzügigkeit beeindruckt und lockerte Cordays Fesseln, bevor er ihm eine der Schlingen um den Hals legte. Als Corday vor dem Sisalstrang zurückschreckte, trat Reverend Cotton vor und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, junger Mann«, sagte er, »und eine allgegenwärtige Hilfe in Zeiten der Not. Flehe zum Herrn, er wird dich erhören. Bereust du deine schlimmen Sünden, mein Junge?«
»Ich habe nichts getan!«, jammerte Corday.
»Ruhig, mein Sohn, ruhig«, drängte Cotton, »und denke in demütigem Schweigen über deine Sünden nach.«
»Ich habe nichts getan!«, schrie Corday.
»Charlie! Mach denen doch nicht die Freude«, mahnte Venables. »Denk dran, was ich dir gesagt habe, geh wie ein Mann!« Venables trank den Becher Branntwein und kehrte Botting den Rücken zu, damit er ihm die Ellbogenfesseln anlegen konnte.
»Aber allein schon die Tatsache, dass der Mann verurteilt und bestraft wurde, dürfte die Behörden doch zögern lassen, den Fall erneut aufzurollen?«, sagte Lord Christopher zu Lord Alexander.
»Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden«, erklärte Lord Alexander unbestimmt. »Aber ich nehme an, dass dein Einwand begründet ist. Niemand gibt gern einen Irrtum zu, am wenigsten ein Politiker, also darf der wahre Mörder sich wohl ein gutes Stück sicherer fühlen, wenn Corday erst einmal tot ist. Armer Junge, armer Junge. Er ist ein Opfer der Unfähigkeit unserer Rechtsprechung, was?«
Botting legte Venables die zweite Schlinge auf die Schultern. Reverend Cotton trat einen Schritt von den Gefangenen zurück und schlug das Seelenamt in seinem Gebetbuch auf: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.«
»Ich habe nichts getan«, schrie Corday und schaute nach links und rechts, als suche er einen Ausweg.
»Ruhig, Charlie«, sagte Venables leise, »ruhig.«
Der Sheriff und sein Vertreter, beide in Roben, Amtsketten sowie einem Stab mit Silberspitze, waren offenkundig zufrieden, dass die beiden Gefangenen ordnungsgemäß vorbereitet waren, und traten zum Gefängnisverwalter, der sich förmlich vor ihnen verbeugte und dem Sheriff ein Dokument reichte. Der Sheriff warf einen Blick auf das Schriftstück und steckte es mit einem Kopfnicken in eine Tasche seiner pelzbesetzten Robe. Bisher waren die beiden Gefangenen der Obhut des Gefängnisverwalters von Newgate unterstellt, nun gehörten sie dem Sheriff, der sie wiederum in die Hand des Teufels geben würde. Der Sheriff schob seine Robe auseinander und nestelte seine Taschenuhr heraus. Er ließ den Deckel aufschnappen und schaute auf das Zifferblatt. »Es ist ein Viertel vor acht«, sagte er und wandte sich an Botting: »Sind Sie bereit?«
»Bereit, Euer Ehren, zu Euren Diensten«, antwortete Botting, setzte seinen Hut auf, nahm die beiden Baumwollsäcke und schob sie in eine Tasche.
Der Sheriff ließ die Uhr zuschnappen und ging auf den Presshof. »Wir haben um acht Uhr einen Termin, meine Herren«, verkündete er, »gehen wir.«
»Scharfe Nierchen!«, sagte Lord Alexander. »Gott, ich kann sie schon riechen. Komm, Kit!«
Sie schlossen sich der Prozession an.
Und die Glocken läuteten unaufhörlich.
Es war nicht weit.
Eine Viertelmeile bis Whitehall, dort auf den Strand und eine Dreiviertelmeile bis Temple Bar, von dort war es knapp eine Drittelmeile die Fleet Street hinunter, über den Graben und Ludgate Hill hinauf, bis links Old Bailey abzweigte. Es war wirklich keine Entfernung, schon gar nicht, nachdem die Polizeistation am Queen Square einige Polizeipferde geschickt hatte. Sandman und Berrigan saßen auf, der Sergeant auf einer Stute, die, wie ein Wachmann beschwor, lammfromm war, und Sandman auf einem lebhafteren Wallach. Witherspoon brachte die Begnadigung vor das Haus und reichte sie Sandman. »Möge Gott Sie schnell vorankommen lassen, Captain«, sagte Witherspoon.
»Wir treffen uns im ‘Sheaf, Sal!«, rief Berrigan und tat einen Satz nach hinten, als seine Stute Sandmans Wallach Richtung Whitehall folgte. Drei Polizisten ritten vorweg, einer blies in eine Trillerpfeife, während die anderen beiden mit gezücktem Schlagstock einen Weg zwischen Karren, Fuhrwerken und Kutschen bahnten. Ein Straßenkehrer, der gerade die Fahrbahn überquerte, sprang laut fluchend beiseite. Sandman steckte das kostbare Dokument in die Tasche und sah sich nach Berrigan um, der große Mühe mit seiner Stute hatte. »Hacken runter, Sergeant! Hacken runter! Zerren Sie nicht an den Zügeln, lassen Sie sie einfach laufen! Sie passt schon auf Sie auf.«
Sie kamen an den königlichen Stallungen vorbei und nahmen auf dem Strand den Bürgersteig. Sie ritten vorbei an der Apotheke Kidman, jagten zwei Fußgänger in den tiefen Ladeneingang und passierten das Messerwarengeschäft Carrington, wo Sandman seinen ersten Degen gekauft hatte. Er war beim Angriff auf Badajoz zerbrochen, wie er sich erinnerte. Es war keine Heldentat, nur sein eigener Arger über die Unfähigkeit der Armee, die französische Festung zu nehmen, die ihn veranlasst hatte, in seiner Wut mit dem Degen auf einen zurückgelassenen Munitionswagen einzudreschen, wobei die Klinge am Heft abgebrochen war. Sie galoppierten vorbei am Sans Pareil, jenem Theater, in dem die Schauspielerin Celia Collet den Earl of Avebury bezaubert hatte. Der alte Narr hatte eine gierige Schönheit geheiratet, und als sich herausstellte, dass ihre unsterbliche Liebe nichts anderes war als unersättliche Lust, und sie sich trennten, zog sie wieder nach London, wo sie sich ihre frühere Theaterdienerin, Margaret Hargood, als Kupplerin holte, um sich den Luxus zu verschaffen, den sie ihrer Ansicht nach beanspruchen durfte. So hatte die Countess ihre Männer in die Falle gelockt, sie erpresst und sich bereichert, bis die dickste Fliege von allen ihr ins Netz ging. Der unschuldige, naive Lord Christopher Carne war seiner Stiefmutter verfallen, sie hatte ihn verfährt, ihm den Kopf verdreht, ihn schaudern und stöhnen lassen und ihm dann gedroht, es den Treuhändern des Erbguts, seinem Vater und der ganzen Welt zu sagen, wenn er ihr nicht noch mehr Geld aus seiner großzügigen Apanage zahlte. Da Lord Christopher wusste, dass seine Stiefmutter immer mehr von ihm fordern würde, wenn er erst einmal das Vermögen geerbt hätte, bis seine Schatulle leer wäre, hatte er sie getötet.