All dies hatte Sandman erfahren, während Viscount Sidmouth von eigener Hand die Begnadigung geschrieben hatte. »Eigentlich müsste der Kronrat dieses Dokument abfassen«, sagte der Innenminister.
»Dazu bleibt wohl kaum Zeit«, wandte Sandman ein.
»Das ist mir klar, Captain«, sagte Sidmouth scharf. Die Feder kratzte und winzige Tintentröpfchen spritzten, als er seine Unterschrift kritzelte. »Geben Sie dies mit meiner Empfehlung dem Sheriff von London oder einem seiner Vertreter«, sagte er und streute Sand auf die feuchte Tinte. »Einer von ihnen ist sicher bei der Hinrichtung anwesend. Wenn sie fragen, warum ein solcher Befehl nicht vom Kronrat unterzeichnet und durch den Schriftführer von London an sie weitergeleitet wurde, erklären Sie, dass keine Zeit blieb, um das ordnungsgemäße Verfahren einzuhalten. Seien Sie bitte so nett und geben Sie mir diese Kerze und den Siegellack?«
Das Siegel auf dem Begnadigungsschreiben war noch warm, als Sandman und Berrigan nun durch die Stadt ritten. Sandman überlegte, mit welcher Schuld Lord Christopher leben musste und dass der Mord an seiner Stiefmutter ihm nichts genutzt hatte, da der Marquess of Skavadale ihn auf frischer Tat ertappt hatte und die finanziellen Probleme seiner Familie, die kurz vor dem Ruin stand, mit einem Schlag gelöst sah. Meg konnte bezeugen, dass Lord Christopher der Mörder war, und solange sie lebte und unter dem Schutz des Marquess stand, würde Lord Christopher für ihr Schweigen zahlen müssen. Und sobald Lord Christopher mit dem Titel des Earl das Vermögen seines Großvaters geerbt hätte, wäre er gezwungen worden, sein gesamtes Erbe an Skavadale zu übertragen, der Meg, durch die er diesen Wohlstand aus dem Avebury-Vermögen hätte erpressen können, mit ein paar Hühnern abgespeist hätte.
Sidmouth hatte in die Kanalhäfen sowie nach Harwich und Bristol Boten geschickt, um nach Lord Christopher Carne suchen zu lassen. »Und was ist mit Skavadale?«, hatte Sandman gefragt.
»Wir wissen nicht, ob er bereits Geld erpresst hat«, erklärte Sidmouth spröde, »und wenn das Mädchen die Wahrheit sagt, hatten sie nicht vor, mit ihrer Plünderung zu beginnen, bevor Lord Christopher den Earl-Titel geerbt hatte. Wir mögen ihre Absichten zwar missbilligen, Captain, aber wir können sie nicht für ein Verbrechen bestrafen, das noch nicht begangen wurde.«
»Skavadale hat die Wahrheit vertuscht!«, wandte Sandman verärgert ein. »Er hat die Polizei gerufen und ausgesagt, er habe den Mörder nicht erkannt. Er hätte zugelassen, dass ein Unschuldiger in den Tod geht!«
»Und wie wollen Sie das beweisen?«, fragte Sidmouth kurz angebunden. »Seien Sie zufrieden, dass Sie den wahren Mörder gefunden haben.«
»Und vierzig Pfund Belohnung verdient haben«, warf Berrigan strahlend ein, was ihm einen überaus missfälligen Blick Seiner Lordschaft eintrug.
Als die Hufschläge ihrer Pferde an den Mauern der Kirche St. Clement widerhallten und Sandman sein Spiegelbild dutzendfach in den Rundfenstern des Steakhauses Clifton sah, dachte er, wie gut ihm jetzt ein Schweinesteak mit Nierchen schmecken würde. Unmittelbar vor ihnen lag das Stadttor Temple Bar, unter dem sich Karren und Fußgänger drängten. Die Polizisten riefen, die Karren sollten weiterfahren, schoben sich mit ihren Pferden in das Gedränge und brüllten die Kutscher an, ihre Peitschen einzusetzen. Ein mit Schnittblumen beladenes Fuhrwerk versperrte nahezu den gesamten Torbogen, und einer der Polizisten schlug mit seinem Knüppel darauf ein, dass Blüten und Blätter auf das Pflaster spritzten. »Lassen Sie!«, brüllte Sandman. »Lassen Sie!« Er hatte eine Lücke auf dem Bürgersteig entdeckt und zwängte sich mit seinem Pferd hinein, wobei er einen dünnen Mann mit Hut umwarf. Berrigan folgte ihm, und sobald sie den Torbogen hinter sich gelassen hatten, stellte sich Sandman in die Steigbügel und trieb sein Pferd Richtung Fleet Ditch, dass die Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster Funken schlugen.
Die ersten Kirchenglocken begannen zu läuten, und Sandman schien es, als sei die ganze Stadt erfüllt von einer Kakophonie aus Glockengeläut, Hufschlägen, Alarm und Verhängnis.
Er glitt zurück in den Sattel, gab dem Pferd einen Klaps und ritt wie der Wind.
Als Lord Alexander durch den hoch aufragenden Bogen der Schuldnerpforte trat, sah er vor sich den dunklen Hohlraum unter dem Galgenpodest, der ihn stark an den Unterbau einer Theaterbühne erinnerte. Von außen, wo die Zuschauer sich auf der Straße sammelten, wirkte der mit schwarzem Stoff verhängte Galgen massig, dauerhaft und finster. Von seiner Warte aus sah Lord Alexander jedoch, dass es eine Illusion auf rohen Holzbalken war, eine Bühne für eine Tragödie, die mit dem Tod endete. Rechter Hand führte eine Holzstiege in den Schatten hinauf, knickte scharf links ab und mündete in einem überdachten Pavillon im hinteren Teil des Galgenpodests. Der überdachte Pavillon ähnelte den privilegierten Theaterlogen, die wichtigen Gästen den besten Blick auf das Drama boten.
Lord Alexander ging als Erster die Treppe hinauf und wurde mit lautem Jubel empfangen. Wer er war, kümmerte niemanden, aber sein Erscheinen kündete die Ankunft der beiden zum Tode Verurteilten an, und die Menge war das Warten leid. Lord Alexander musste im Sonnenschein blinzeln, zog den Hut und verbeugte sich vor dem Pöbel, der die Geste mit Lachen und Beifall honorierte. Es war keine große Menge erschienen, aber sie füllte die Straße über hundert Meter nach Süden und blockierte die Einmündung in die Newgate Street im Norden. Alle Fenster des Magpie and Stump waren besetzt, und selbst auf dem Dach der Schänke saßen Zuschauer.
»Wir wurden gebeten, uns nach hinten zu setzen«, sagte Lord Christopher, als Lord Alexander in der ersten Reihe Platz nahm.
»Wir wurden gebeten, in der ersten Reihe zwei Plätze für den Sheriff frei zu lassen«, berichtigte Lord Alexander ihn, »und die sind frei. Setz dich, Kit. Was für ein herrlicher Tag! Glaubst du, das Wetter hält sich? Budd am Samstag, ja?«
»Budd am Samstag?« Lord Christopher wurde angerempelt, als die anderen Gäste sich auf die hinteren Plätze zwängten.
»Kricket, mein Junge! Ich habe Budd tatsächlich überreden können, gegen Jack Lambert anzutreten, und Lambert, der brave Kerl, hat sich bereit erklärt, zurückzutreten, wenn Rider Sandman seinen Platz einnimmt! Das hat er mir gestern nach der Kirche gesagt. Also, das ist ein Traumspiel, was? Budd gegen Sandman. Du kommst doch, oder?«
Johlen übertönte das Gespräch auf dem Galgenpodest, als die Sheriffs in Kniebundhosen, Seidenstrümpfen, Schuhen mit Silberschnallen und pelzbesetzten Roben erschienen. Lord Christopher schien ihre Ankunft nicht zu bemerken, sondern starrte auf den Galgenbaum. Er schien enttäuscht, dass er nicht blutbefleckt war, zuckte jedoch zusammen, als er die beiden unverhüllten Särge erblickte, die auf ihre Last warteten. »Sie war böse«, raunte er.
»Selbstverständlich kommst du«, sagte Lord Alexander und runzelte die Stirn. »Was hast du gesagt, mein Lieber?«
»Meine Stiefmutter, sie war böse.« Lord Christopher schien zu frösteln, obwohl es nicht kalt war. »Sie und ihre Zofe, sie waren Hexen!«