»Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen«, sagte Reverend Cotton.
Lord Alexander, den die letzten Minuten angewidert hatten, bemerkte Unruhe am schmalen Südende der Straße.
»Gepriesen sei der Name des Herrn«, betete der Ordinarius.
»Gott verdammt!« Sandman steckte im Verkehrsgedränge an der Kreuzung Ludgate Hill und Farringdon Street fest. Zu seiner Rechten stank der Fleet Ditch in der Morgensonne. Ein Kohlenfuhrwerk, das in die Fleet Street biegen wollte, hatte sich an der Ecke festgefahren, und nun gaben ein Dutzend Männer gute Ratschläge, während ein Anwalt in einer Mietdroschke seinen Kutscher drängte, den Pferden des Kohlenfuhrwerks die Peitsche zu geben, obwohl sie gar keinen Platz hatten, sich zu rühren, weil ein noch größeres Fuhrwerk, beladen mit Eichenbalken, sich an ihnen vorbeischob. Die Polizisten ritten, Trillerpfeife blasend und Knüppel schwingend, hinter Sandman auf die Kreuzung, der einen Fußgänger mit einem Tritt aus dem Weg beförderte, sein Pferd nach links lenkte, den Anwalt, dessen Droschke ihn behinderte, mit Flüchen bedachte und sich unvermittelt von einem wohlmeinenden Bürger aufgehalten sah, der glaubte, Sandman sei vor den Polizisten auf der Flucht, und dessen Pferd nun am Zaumzeug festhielt.
»Hände weg!«, schrie Sandman. Berrigan ritt neben ihn, schlug den Mann auf den Kopf und zerdrückte seinen Hut; Sandmans Pferd war wieder frei, und er lenkte es mit Tritten neben das Fuhrwerk mit den riesigen Eichenbalken.
»Ihr braucht euch gar nicht so zu beeilen!«, rief der Fahrer. »Jedenfalls nicht, wenn ihr zu der Hinrichtung wollt. Die Kerle baumeln bestimmt schon!« Sämtliche Glocken der Stadt hatten bereits die volle Stunde geschlagen, jene, die immer zu früh bimmelten, und selbst die Nachzügler hatten bereits acht geschlagen, doch da die Totenglocke der Grabeskirche noch läutete, wagte Sandman zu hoffen, dass Corday noch lebte. Er brach aus dem Verkehrsgewühl aus und trieb sein Pferd Richtung St. Paul’s Cathedral, die sich mit Treppenstufen, Säulen und Kuppel oben auf Ludgate Hill erhob.
Auf halber Höhe des Hügels bog er nach Old Bailey ein, wo der Weg vor dem Gerichtsgebäude zum Glück frei war. Ein Stück weiter, wo die Straße sich vor dem großen Gefängnishof von Newgate verbreiterte, verstopfte die brodelnde Menge plötzlich die Straße in ihrer ganzen Breite, und er kam nicht weiter, obwohl er schon den Galgenbaum über dem schwarzen Podest in den Himmel ragen sah. Er stellte sich in die Steigbügel und trieb schreiend sein Pferd in die Menge wie die Royais, die Scots Greys und die Inniskillings es getan hatten, als sie das französische Corps in Waterloo geschlagen hatten.
»Platz da!«, brüllte Sandman, »Platz da!« Er sah die Männer auf dem Galgengerüst und bemerkte, dass einer saß, was ungewöhnlich war. Er sah den Priester und auf dem hinteren Teil des Podests eine Gruppe von Zuschauern und Beamten; die Menge widerstand seinem heftigen Drängen, er wünschte, er hätte eine Waffe, um auf sie einschlagen zu können, doch dann ritten die Polizisten neben ihn und gingen mit ihren langen Schlagstöcken gegen das Gedränge vor.
Ein Seufzen ging durch die Menge, Sandman sah nur noch den Priester auf der schwarzen Bühne des Galgenpodests, das sich über die Hälfte der Straße an ihrer breitesten Stelle erstreckte.
Die Falltür hatte sich geöffnet.
Und die Glocke der Grabeskirche läutete für die Sterbenden.
Venables fluchte auf den Ordinarius und auf den Gefängnisverwalter, aber nicht auf Jemmy Bottings, denn er wusste nur zu gut, dass der Henker seinen Tod beschleunigen konnte. »Hör auf zu flennen!«, befahl er Corday.
»Ich habe nichts getan!«, jammerte dieser.
»Glaubst du, du bist der erste Unschuldige, der hier oben stirbt?«, fragte Venables. »Oder der Hundertste? Das hier ist der Galgen, Charlie, der kennt keinen Unterschied zwischen Schuldigen und Unschuldigen. Bist du da, Jemmy?« Da Venables den weißen Sack über dem Kopf hatte, konnte er nicht sehen, dass der Henker an den Rand des Podestes gegangen war, um den Sicherungsbolzen herauszuziehen. »Bist du da, Jemmy?«
»Es dauert nicht mehr lange, Jungs«, sagte Botting. »Geduld«. Er verschwand über die Hintertreppe.
»Da ist Rider!« Lord Alexander war aufgesprungen, sehr zur Verärgerung der Gäste in den hinteren Reihen. »Es ist Rider!«
Endlich hatte die Menge gemerkt, dass etwas Unvorhergesehenes geschah. Der erste Hinweis war, dass Lord Alexander, groß und auffallend, am Pavillon stand und in Richtung Ludgate Hill zeigte. Sie drehten sich um und sahen Reiter, die sich gewaltsam einen Weg durch die Menge bahnten.
»Lasst sie durch!«, riefen einige.
»Was ist los?«, brüllte Venables von der Falltür. »Was ist los?«
»Setzen Sie sich, Mylord«, wies der Sheriff Lord Alexander an, der ihn einfach überhörte.
»Rider!«, rief er über die Köpfe der Menge hinweg, aber seine Stimme ging im Tumult unter.
Jemmy Botting fluchte, weil er an dem Seil gezogen hatte, der mit Talkum eingeriebene Trägerbalken sich aber nicht rührte, sondern lediglich bebte. »Verdammt und zugenäht!«, fluchte er, griff zum zweiten Mal nach dem Seil und zerrte mit aller Gewalt daran. Dieses Mal gab der Träger so schnell nach, dass Botting hinten überfiel, während über ihm der Himmel sichtbar wurde. Die Falltür öffnete sich mit einem dumpfen Schlag, und die beiden Körper fielen in die Versenkung. Venables zuckte würgend, während Cordays Beine gegen den Stuhl schlugen.
»Sheriff! Sheriff!«, Sandman näherte sich dem Galgen. »Sheriff!«
»Eine Begnadigung?«, brüllte Lord Alexander. »Eine Begnadigung?«
»Ja!«
»Kit! Hilf mir!« Lord Alexander hinkte auf seinem Klumpfuß zu Corday, der zuckend und würgend am Galgen hing. »Hilf mir, ihn hochzuziehen!«
»Lassen Sie ihn los!«, brüllte der Sheriff, als Lord Alexander nach dem Strang griff.
»Lassen Sie los, Mylord!«, befahl Reverend Cotton. »Das ziemt sich nicht!«
»Lassen Sie mich, Sie verdammter Narr!«, schnaubte Lord Alexander und stieß Cotton fort. Er packte den Strang und versuchte, Corday wieder auf das Podest zu ziehen, aber seine Kräfte reichten nicht annähernd aus. Der weiße Baumwollsack vor Cordays Mund bebte.
Sandman schob die letzten Leute unsanft beiseite und rammte mit seinem Pferd die Barriere. Er tastete in seinen Rocktaschen nach der Begnadigung, glaubte einen grausamen Augenblick lang, er habe sie verloren, fand schließlich das Schriftstück und streckte es zum Galgen hinauf, aber der Sheriff kam nicht, um es entgegenzunehmen. »Es ist eine Begnadigung!«, rief Sandman.
»Kit, hilf mir!« Lord Alexander zerrte kraftlos an Cordays Strang; konnte den Sterbenden aber nicht einmal zwei Finger breit anheben und wandte sich an Lord Christopher. »Kit! Hilf mir!« Lord Christopher riss hinter seiner dicken Brille die Augen weit auf und presste beide Hände vor den Mund. Er rührte sich nicht.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, brüllte Jemmy Botting Lord Alexander unten aus dem Galgengerüst an, kletterte über die Stützbalken nach oben und zerrte an Cordays Beinen, um sich nicht um einen Toten betrügen zu lassen. »Sie kriegen ihn nicht!«, schrie er Lord Alexander an. »Sie kriegen ihn nicht! Er gehört mir! Er gehört mir!«
»Nehmen Sie!«, rief Sandman dem Sheriff zu, der sich immer noch weigerte, sich nach unten zu beugen und das Begnadigungsschreiben anzunehmen, doch in diesem Augenblick zwängte sich ein schwarz gekleideter Mann neben Sandman.
»Geben Sie mir das«, sagte er. Er wartete nicht ab, bis Sandman der Aufforderung nachkam, sondern riss ihm das Schriftstück aus der Hand, schwang sich über die Absperrung vor dem Galgen, sprang mit einem gewaltigen Satz hoch und klammerte sich an den Rand des Galgengerüsts. Einen Augenblick lang suchten seine schwarzen Stiefel in den Stoffbahnen Halt, bis er die Kante der offenen Falltür erwischte und sich auf die Plattform zog. Es war Sallys Bruder, ganz in Schwarz gekleidet und das schwarze Haar mit einem schwarzen Band zurückgebunden. Die Stammgäste im Publikum jubelten, weil sie ihn erkannten und bewunderten. Es war Jack Hood, Robin Hood, der Mann, den jeder Magistrat und Polizist in London gern auf Jemmy Bottings Bühne hätte tanzen sehen und der sich über ihren Ehrgeiz mokierte, indem er zu jeder Hinrichtung in Newgate erschien. Als er endlich das Galgenpodest erklommen hatte, drückte er dem Sheriff Cordays Begnadigung in die Hand. »Nimm das, verdammt!«, schnaubte Hood, und verdutzt über die Frechheit des jungen Mannes, nahm der Sheriff das Dokument tatsächlich entgegen.