»Aber Lila war tot! Larry hatte sie umgebracht, bevor er das Haus verließ. Das wissen wir doch jetzt.«
»So, wissen wir das? Mir scheint, das bleibt noch zu beweisen. Hast du Larrys Geständnis mit eigenen Ohren gehört?«
»Ja, sag mal, willst du etwa andeuten, daß ich Lila getötet habe, weil sie meine Annäherungsversuche zurückgewiesen hat, oder so ähnlich?« fragte Stanley aufgebracht.
»Das habe ich nicht gesagt, das hast du gesagt. Ich sage nur, daß deine Ambitionen als Don Juan dich zu einem erstklassigen Verdächtigen in einem ziemlich üblen Mordfall gemacht haben.«
»Herrgott, du machst mir Spaß! Zuerst beschuldigst du mich, mit Nancy auf der Straße herumgeknutscht zu haben, und dann, zu Lila ‘rübergeschlichen zu sein und mich mit ihr amüsiert zu haben. Ich fühl’ mich ja fast wie ein liebestoller Kater auf Abwegen!«
»An deiner Stelle, Stanley, hätte ich ein ganz anderes Gefühl. Ich hätte Angst!«
Und die hatte Stanley auch.
9
Am Montagmorgen war Masters schon vor acht Uhr in Larry Connors Büro. Er wußte nicht, wann die Sekretärin des Toten gewöhnlich zur Arbeit kam, doch er nahm an, daß auch sie die in der Stadt übliche Arbeitszeit von acht bis fünf einhielt. Er hatte recht; um eine Minute vor acht hörte er einen Schlüssel in der Vordertür. Masters hockte wartend auf einer Ecke ihres Schreibtischs, die Hand in der Tasche seiner ausgebeulten Hose, wo seine Finger mit einem einsamen Vierteldollar spielten. Die Sekretärin war ein hübscher, gut gewachsener Rotschopf und, wie er schätzte, etwa Ende Zwanzig. Ihr Ausdruck, als sie Masters da sitzen sah, wo er ganz offensichtlich nicht hingehörte, war eher erstaunt als erschreckt. Masters mochte ihr Haar nicht. Das Rot war zwar echt, doch hatte sie es übermäßig toupiert, um eine nicht vorhandene Fülle vorzutäuschen.
»Wer sind Sie?« fragte sie streng.
»Leutnant Masters. Kriminalpolizei.« Er zeigte ihr seinen Ausweis.
»Aber was wollen Sie hier, Leutnant? Ist Mr. Connor schon da?«
»Nein. Und er wird auch nicht kommen. Darüber möchte ich ja mit Ihnen sprechen. Ich glaube, Sie nehmen wohl besser Platz.«
Als sie an ihm vorbei zu ihrem Schreibtischstuhl ging, zog er die Hand aus der Tasche. Das Mädchen bewegte sich steif, und er hatte den Eindruck, daß sie auf schlechte Nachrichten gefaßt war. Bevor sie sich setzte, verstaute sie ihre Handtasche in einer Schublade; dann faltete sie die Hände auf der Schreibtischplatte wie eine Lehrerin, die ein Kind an die Wandtafel ruft.
»Was ist denn passiert?« fragte sie. »Ist Mr. Connor etwas zugestoßen?«
»Ich glaube, Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt.«
»Ich heiße Ruth Benton.«
»Also, Miss Benton, sind Sie schon lange Mr. Connors Sekretärin?«
»Seit über einem Jahr. Fünfzehn Monate genau. Warum?«
»Dann hätten Sie also Zeit gehabt, ihn ziemlich genau kennenzulernen. Was für ein Mensch war er?«
Ihre wahre Meinung war deutlich in ihren Augen zu lesen, und er merkte, daß Larry Connor ihr viel bedeutet haben mußte. Sie ihm auch? Möglich. Ruth Benton mußte eine Erholung sein für einen Mann, der mit Lila Connor verheiratet war.
»Er war freundlich, aufmerksam und anständig. Er würde nie etwas Unehrenhaftes tun, wenn Sie das meinen.«
»Das meine ich nicht. Haben Sie jemals Anzeichen einer seelischen Störung an ihm bemerkt?«
»Nun, er hatte auch seine Sorgen, wie jedermann.« Sie verstummte; urplötzlich war ihr der Tempus aufgefallen, den Masters benutzte, und den sie unwillkürlich nachgeahmt hatte.
»Was ist Mr. Connor denn zugestoßen? Ist er tot?«
»Warum fragen Sie?«
»Ist er tot?«
»Ja. Er hat anscheinend gestern nacht hier im Büro Selbstmord begangen.«
Sie nahm es gefaßt auf, und Masters, der eine andere Reaktion befürchtet hatte, war erleichtert. Geduldig wartete er, und bald schon sah sie auf und begann ruhig zu sprechen. Das Zittern in ihrer Stimme konnte sowohl auf Wut als auch auf Schock und Schmerz zurückzuführen sein.
»Dann hat sie ihn also endlich doch dazu getrieben«, sagte sie.
»Wer?«
»Seine Frau.«
»Ach ja. Wie ich hörte, war er nicht glücklich mit ihr. Aber stand es denn so schlimm?«
»Er hat sich doch umgebracht, nicht? Wenn man lieber stirbt als so weiterzuleben, muß es doch schlimm sein.«
»Würden Sie mir sagen, wieso Sie mit seinen privaten Schwierigkeiten so vertraut sind?«
»Larry hat’s mir erzählt. Er muß sich bei jemandem aussprechen.«
So, jetzt war es also >Larry<, ganz offen. Das gefiel Masters.
»Sie waren befreundet?«
»Ja.«
»Mehr nicht?«
»Nein.« Sie sagte das weder abwehrend noch trotzig, sondern nur, als konstatiere sie eine Tatsache. »Unser Verhältnis war etwas ganz Besonderes. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
»Ich verstehe. Haben Sie sich auch außerhalb des Büros getroffen?«
»Hin und wieder.«
»Wo?«
»Das war verschieden. Zum Beispiel auf Cocktails im Hotel. Dann und wann zum Essen. Ein paarmal kam er auch zu mir in die Wohnung.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.«
»Warum sollte ich nicht offen sein? Wir hatten nichts zu verbergen. Wir haben nicht miteinander geschlafen – es war alles ganz unschuldig, Leutnant. Jetzt wünschte ich, es wäre anders gewesen.«
»Haßte er seine Frau?«
»Das würde ich nicht direkt sagen. Sie brachte ihn zur Verzweiflung. Er wollte sie verlassen.«
»Er hat sie mitgenommen, Miss Benton.«
»Was?« Sie griff nach der Schreibtischkante.
»Er hat sie umgebracht.«
»Das glaube ich nicht!«
»Tja, man hat sie in ihrem Schlafzimmer erstochen aufgefunden. Kurz bevor er hier gefunden wurde.«
Ruth Benton starrte auf ihre ineinandergekrampften Hände; dann senkte sie langsam den Kopf, bis ihre Stirn auf ihnen ruhte. Er erwartete, daß sie jetzt zusammenbrach, war gefaßt auf einen Strom von Tränen, doch abermals konnte er erleichtert aufatmen. Nach einer Weile erhob sie sich und holte ihre Handtasche aus der Schreibtischschublade.
»Ich möchte nach Hause«, sagte sie.
»Kann ich Sie dort erreichen, falls ich Sie brauche?«
»Meine Nummer steht im Telefonbuch.«
»Nun gut, Miss Benton.«
Die Tasche fest in der Hand, ging sie hinaus, immer noch steif, so als nehme sie sich mit all ihrer Kraft zusammen. Sie ist, dachte er, eine bemerkenswert starke und zähe junge Frau. Masters schloß ab und ging ebenfalls.
Im Präsidium erstattete er dem Chef Bericht und informierte ihn über die zwei Todesfälle und ihren offensichtlichen Zusammenhang.
»Ekelhaft«, sagte der Chef. »Aber wenigstens eindeutig. Mord und Selbstmord. Bleibt in der Familie. Können wir bestimmt bald abschließen, den Fall.«
»Bevor wir ihn abschließen, Chef, möchte ich aber doch noch gern zwei Fragen klären.«
»Warum? Was für Fragen?«
Masters wühlte in der Tasche und zog das lederne Schlüsseletui hervor, das er aus Larry Connors Büro mitgenommen hatte. Er öffnete es und legte es vor den Chef auf den Schreibtisch.
»Zum Beispiel dieses Schlüsseletui. Diese beiden Schlüssel hier sind für seinen Wagen – der eine Tür- und Zündschlüssel, der andere für den Kofferraum. Diese beiden hier gehören zur Vorder- und Hintertür seines Büros. Ich habe alle vier probiert. Hier, der fünfte ist, wie ich glaube, entweder für die Vorderoder die Hintertür seines Privathauses. Die Frage ist nun: Warum hatte er nicht zwei Hausschlüssel – für jede Tür einen?«