»Dann hat er ihn vielleicht noch.«
»Dann wäre er ein Idiot«, sagte Masters. »Und wer immer er ist, ein Idiot ist er nicht.«
»Oder er hat ihn weggeworfen.«
»Möglich.« Das klang geheimnisvoll.
»Leutnant, Sie wissen etwas!« Nancy war so aufgeregt, daß sie Masters am Arm packte und sich weit zu ihm hinüber^ beugte. Masters schloß ganz kurz die Augen; ihr Parfüm machte ihn schwindlig. »Los, sagen Sie schon! Was ist es? Erzählen Sie doch!«
»Nun ja, ich habe da so eine Idee«, sagte er schwach.
»Was denn?«
»Das möchte ich jetzt lieber nicht sagen. Ich kann völlig auf dem Holzweg sein.«
Damit war die Diskussion beendet, und Masters brachte Nancy nach Hause zurück. Auf der Terrasse nahm er grüßend den Hut ab und wollte gerade gehen, da sagte Nancy: »Ach, fast hätt’ ich’s vergessen!« Und sie erzählte ihm ein wenig verspätet von Stanley Walters’ Beichte. Masters hörte mit wachsender Bitterkeit zu. Böse blickte er hinüber zu dem Gäßchen, wo Stanley in der fraglichen Nacht gestanden hatte.
»Das klärt die Angelegenheit endgültig«, grollte er, als Nancy geendet hatte. »Warum hat Walters mir das nur nicht selbst erzählt?«
»Nehmen Sie’s Stanley nicht übel, Leutnant«, sagte Nancy. »Er hat entsetzliche Angst vor der Wut seiner Frau. Mae kann sehr unangenehm werden, wenn’s um andere Frauen geht.«
In Erinnerung an Mae Walters’ Erscheinung konnte Masters das gut verstehen. Trotzdem kochte er vor Zorn.
»Walters hätte es mir unbedingt sagen müssen«, sagte er.
»Zurückhalten von Beweismaterial in einem Mordfall ist ein schweres Vergehen. Und mich hat es eine Menge Zeit und Kopfzerbrechen gekostet. Ich hätte mit fliegendem Start losschieben können, statt mühsam im zähen Schlamm meines eigenen Dickschädels herumzuwaten.«
»Stanley hat ja nichts zurückgehalten«, entgegnete Nancy rasch, ein wenig verschüchtert angesichts dieses unerwarteten Wesenszuges an Leutnant Masters. »Er hat es Ihnen nur ein wenig verspätet mitgeteilt, Leutnant. Er bat mich, es an seiner Stelle zu tun.«
Masters knurrte. »Mit Mr. Walters werde ich später abrechnen. Hauptsache, die Beweise sind jetzt schlüssig. Es ist eindeutig klargestellt, daß Lila Connor noch lebte, nachdem Sie Larry Connor das Haus verlassen sahen, und das beweist ganz klar, daß er sie nicht umgebracht und ergo auch nicht Selbstmord begangen hat. Walters’ Aussage deckt sich mit anderen Beweisen, die ich habe. Ich persönlich zweifle nicht mehr daran, daß wir es mit einem Doppelmörder zu tun haben, der noch durchaus lebendig ist, und falls ich nicht ganz blöde bin, wohnt er hier irgendwo in der Nähe.«
Damit ging Masters davon, zu seinem Wagen.
13
Ein Mann kam das Durchgangsgäßchen entlang und kontrollierte die Türen. Wenn die Rückseite eines Gebäudes direkt am Durchgang lag, blieb er nur kurz stehen, um sich zu vergewissern, ob die Hintertür verschlossen war, doch wo zwischen Haus und Durchgang ein Parkplatz lag, verschwand er ein, zwei Minuten, und Masters erriet, daß der Mann eine Tür außerhalb seiner Sichtweite kontrollierte. Der Wachmann zog ein Bein nach, Resultat einer Verletzung, die er sich vor Jahren als Bremser bei der Eisenbahn zugezogen hatte. Damals hatte man ihn mit einer beträchtlichen Summe abgefunden, doch das Geld war längst den Weg alles Irdischen gegangen, und er lebte jetzt von einer kleinen Pension und seinen Einkünften als Nachtwächter. Sein Name war Jake Kimble.
Masters, der in einer Seitenstraße am Ende des Gäßchens wartete, verfolgte Jakes Weg nach dem Schein von dessen Taschenlampe; außerdem hörte er deutlich den schlurfenden Schritt des Lahmen über das unebene Pflaster. Er wartete jetzt eine Viertelstunde. Es war ihm eingefallen, daß der Wachmann im Besitz von wichtigen Informationen sein könnte.
Bald tauchte Jake Kimble aus der Dunkelheit auf und trat in den Lichtschein der Straßenlaterne.
»Hallo, Jake«, sagte Masters.
»Hallo?« Der Alte fuhr zusammen. Angestrengt suchte er in dem ungewissen Licht den anderen zu erkennen. »Leutnant Masters?«
»Richtig. Irgend etwas Ungewöhnliches, Jake?«
»Nein, Leutnant. Nichts Ungewöhnliches.«
»Aber neulich nachts gab es etwas Ungewöhnliches, nicht wahr?«
»Nicht für mich, Leutnant«, erwiderte Jake rasch.
Masters lachte. »Finden Sie nicht, daß ein Selbstmord etwas Ungewöhnliches ist?«
»Ach, Sie meinen Mr. Connor, der sich umgebracht hat, nachdem er seine Frau erstochen hat. Nein, der hat nichts Ungewöhnliches gebracht. Mir nicht.«
»War das nicht Samstag nacht?«
»Jawohl, Samstag nacht, auf meiner ersten Runde. Sonntagmorgen bin ich dann wiedergekommen.«
»Und jedesmal haben Sie die Hintertür kontrolliert?«
»Jawohl, Sir. Und jedesmal war sie verschlossen. Ich kenne meine Pflicht, Leutnant.«
»Das weiß ich, Jake. Wissen Sie, ich bearbeite den Fall, und da habe ich mir gedacht, daß Sie vielleicht etwas wissen könnten.«
»Glaube ich kaum. Bei meiner ersten Runde war er nicht in seinem Büro, das weiß ich genau. Aber als ich wiederkam, da war er da. Vielleicht war er da schon tot.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Was? Daß er tot war? Das weiß ich nicht. Ich habe gesagt, vielleicht.«
»Nicht, daß er tot war. Daß er da war.«
»Na, weil sein Wagen doch hinter dem Haus stand.«
Masters grinste enttäuscht. »Sonst noch Gründe?«
»Na klar. Im Fenster neben der Hintertür hat er ‘nen Klimaapparat stecken. Das erstemal, als ich kam, war der aus. Das zweitemal war er an.«
Es war kurz nach elf. Da er bereits soviel vom Abend vertan hatte, fand Masters, er könne ruhig noch etwas mehr vertun. Auf der Ausfallstraße verließ er die Stadt und parkte fünfzehn Minuten später, auf halbem Weg nach Kansas City, vor einem luxuriösen, reich mit Steinurnen, Glasziegeln und Riesen-Neonröhren verzierten Gebäude.
Die Halle war mit teuren Teppichen ausgelegt; dahinter lag ein großer, eng mit Tischen vollgestellter Raum, den er vom Eingang aus überblicken konnte. Nicht alle Tische waren besetzt; an Wochentagen lief das Geschäft nicht so recht. Im Augenblick war der Raum dunkel, bis auf einen bläulichen Scheinwerfer, in dessen Licht ein Mädchen in hautengem Abendkleid zur Begleitung einer kleinen Combo sang. Gleich an der Tür, bewaffnet mit einem Stapel Speisekarten, stand der Geschäftsführer in einem Frack, der um einen Schein blauer war als seine Wangen. Der Mann musterte Masters kühl. Nun ja, Masters mußte zugeben, daß er in seinem verdrückten Anzug, dem weißen Hemd und der schlecht gebundenen Krawatte keine besonders gute Figur machte.
»Einen Tisch für eine Person… Sir?« Das >Sir< kam nur widerwillig.
»Nein, danke«, sagte Masters. »Ich will mich nur umsehen.«
»Suchen Sie einen Freund? Vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen?«
»Freund ist zuviel gesagt. Lewis Shrill. Ist er da?«
»Mr. Shrill ist in seinem Büro. Aber ich glaube, er will nicht gestört werden.«
»Keine Angst, er stört mich ebenso wie ich ihn.« Er klappte sein Etui mit der Marke auf. »Bemühen Sie sich nicht, mein Freund. Ich kenne den Weg.«
Das Büro lag linker Hand, hinter einer schweren Eichentür. Masters klopfte, und eine Stimme, die hinter einem enormen Hindernis hervorzukommen schien, forderte ihn zum Eintreten auf. Masters trat ein.
Das Hindernis bestand aus Rührei und Hühnerleber. Shrill nahm sein Abendessen ein, und das erinnerte Masters daran, daß seit dem Mittagessen eine sehr lange Zeit verstrichen war, und daß bis zum Frühstück eine noch viel längere verstreichen würde. Er setzte sich auf einen Stuhl vor Shrills Schreibtisch.
»Nehmen Sie Platz, Gus«, sagte Shrill.