Masters legte seinen Hut neben sich auf den Boden. »Lassen Sie sich nicht beim Essen stören, Lew.«
»Möchten Sie auch was? Ich lasse gleich was kommen.«
»Lieber nicht. Jemand könnte es sehen und glauben, ich ließe mich bestechen.«
»Immer noch bescheiden, he, Gus? Wenn es etwas gibt, das ich ekelhafter finde als einen korrupten Polypen, dann ist es ein ehrlicher.«
»Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten«, lächelte Masters.
»Sie befinden sich außerhalb Ihres Bezirks, nicht wahr?«
»Außerhalb meines Bezirks, außerhalb meines Elements und außerhalb meiner Prinzipien.«
Shrill hielt mit dem Einschaufeln inne und starrte Masters an. Dann sagte er: »Sagen Sie mir, um was es sich handelt. Wir werden sehen.«
Er konzentrierte sich wieder auf Eier und Leber, und Masters sah ihm hungrig zu. Es war sicher Zufall, daß Shrills Stimme, sogar wenn sie Eier und Leber zu überwinden hatte, seinem Namen alle Ehre machte. Hoch, geziert, fast feminin. Daß sie aus einem schweren Körper kam, machte sie sogar lächerlich. So lange, bis man lernte, oder am eigenen Leibe verspürte, daß an dem Mann durchaus nichts Lächerliches war. Shrill besaß ein breites, dunkles Gesicht mit kleinen, ruhigen, in dunkel aufgedunsene Fleischfalten gebetteten Augen; sein Haar, in der Mitte gescheitelt, war schwarz und glänzend wie ein Toupee, und war auch eins. Überdies litt er an einem sehr femininen, unstillbaren Hunger nach Klatsch, speziell delikater Art. Shrill wußte mehr pikante Einzelheiten über die unglaublichsten Leute als jeder andere im Mittelwesten, und dieser Fundgrube galt Masters’ Besuch.
»Ich brauche Informationen, Lew«, sagte Masters.
»Seit wann kommt die Polizei zu mir wegen Information nen?«
»Sie bedeuten für mich eine Abkürzung des üblichen Weges, und mir wird die Zeit ein bißchen knapp.«
»Zur Sache, Gus. Was wollen Sie wissen?« Mit ungebrochen nem Appetit aß Shrill weiter.
»Alles, was Sie über zwei Personen wissen: Lila Connor und Dr. Jack Richmond.«
Shrills Gabel machte mitten zwischen Teller und Mund halt. Nach einem Augenblick beendete sie dann ihren Weg und kehrte auf den Teller zurück. Shrill kaute mit Behagen. Seine Stimme bahnte sich mühsam einen Weg nach draußen.
»Die Dame ist tot, Gus. Über Tote pflege ich nicht zu plaudern. Das bringt Unglück.«
»Nehmen Sie diesmal das Risiko auf sich, Lew. Ich brauche die Auskunft.«
»Haben Sie Ihren Beruf gewechselt, oder bearbeiten Sie neuerdings nebenbei Fälle von Ehebruch?«
»Also doch Ehebruch«, grinste Masters.
»Spielen Sie nicht Verstecken mit mir, Gus. Es war auch Mord dabei, soviel ich gehört habe. Ihr Mann hat sie umgelegt, und wäre darüber eigentlich nicht überrascht gewesen, wüßte ich nicht, daß er selbst auch keine ganz weiße Weste hatte.«
»Sie denken da an eine gewisse Sekretärin?«
»Ach so, Sie wissen von ihr und Connor!« Shrills Stimme klang überrascht. Plötzlich lachte er. »Ach was, mir kann’s ja nichts schaden. Über den Doktor wollen Sie was hören? Nun ja, er liebt Abwechslung. Die Dame Connor war nicht die erste, und sie wird auch nicht die letzte sein.«
»Lew!« Masters beugte sich vor. »Was war mit Richmond und der Connor? War er über beide Ohren in sie verknallt?«
Der Dicke zuckte die Achseln. »Wer soll das wissen? Er hat’s lange mit ihr ausgehalten, soviel weiß ich. Er hat sie sogar mehrmals hierhergebracht, und das macht midi neugierig. Ich amüsiere mich immer über Burschen wie den Doktor, und manchmal kann ich aus dem, was ich weiß, auch ein paar ehrliche Dollars schlagen. Ich habe gute Verbindungen in Kansas City – Hotels, Motels, Privatdetektive und so weiter. Ich habe mir Berichte geben lassen.«
»Und?«
Shrill zwinkerte. Merkwürdiger Anblick, einen Buddha zwinkern zu sehen. »Die Berichte waren äußerst pikant. Ich könnte ein paar Nächte nennen, von denen Mrs. Doktor bestimmt gerne wüßte.«
»Mit Lila Connor?«
Shrill schob denn Teller zurück und wischte sich mit einer Serviette, so groß wie ein Tischtuch, die Lippen. Gewissenhaft faltete er sie zusammen und legte sie neben den sauber leergegessenen Teller.
»Jawohl«, sagte er. »Mit Lila Connor. Und ich sage Ihnen eins, Gus: dieser Richmond hat Glück gehabt, daß er so leicht davongekommen ist. Sie war ein gemeines Biest – von der Sorte, die tut, als sei sie nymphoman und dann noch nicht mal schneller atmet.«
Masters bückte sich und nahm seinen Hut. »Und haben Sie ein paar ehrliche Dollars herausschlagen können aufgrund der Berichte, Lew?«
»Hören Sie, Gus«, quiekte Lewis Shrill. Dann wurde sein massiger Körper von einem Rülpser geschüttelt. »Verzeihung… Würden Sie mir glauben, wenn ich nein sage?«
»Nein«, sagte Masters.
»Warum fragen Sie dann? Tatsache ist jedoch leider, daß mir keine Zeit blieb, mich mit diesem Fall zu befassen. Connor hat mich ‘ne Menge ehrlicher Dollars gekostet.«
Masters zog eine skeptische Miene. Trotzdem lächelte er, als er sagte: »Vielen Dank, Lew.« Dann ging er.
Er überlegte, ob er noch irgendwo kurz auf eine Bulette und eine Tasse Kaffee haltmachen sollte, doch der Appetit war ihm vergangen. Er schloß einen Kompromiß und trank in einer Bar ein paar Gläser Schnaps.
Die Howells waren gegangen, und das dunkle Haus schien langsam, leise im Dunkeln zu atmen. Vera Richmond lag neben ihrem Mann im Bett und lauschte auf dieses Atmen. Es war ihr eigenes. Seit einer halben Stunde lag sie auf dem Rücken und konnte nicht schlafen. Würde sie je wieder schlafen können? Aber natürlich! Schlaf ist, wie der Tod, unausweichlich, und am Ende bestand vielleicht gar kein Unterschied zwischen den beiden.
»Bist du wach?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte Jack Richmond. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe nachgedacht.«
»Ich auch. Ich habe über das nachgedacht, was Nancy Howell uns heute abend erzählt hat. Was, glaubst du, geschieht als nächstes?«
»Ich weiß nicht. Einer Tatsache müssen wir jedoch ins Auge sehen, Vera: Lila lebte noch, als Larry Samstag nacht das Haus verließ. Also ist er entweder später zurückgekommen, oder… jemand anders hat sie umgebracht.«
Sie schwiegen wieder. Abermals nach einer Weile sagte Vera: »Aber was ist mit Larrys Tod? Wieso kann man da überhaupt auf etwas anderes schließen als Selbstmord?«
»Die Frage ist nicht, auf was >man< schließen kann, sondern auf was die Polizei schließt. Dieser Masters hat uns bewiesen, daß er keineswegs dumm ist. Gott allein weiß, was er noch herausgefunden oder kombiniert hat.«
»Es schien zuerst alles so einfach«, sagte Vera. »Es wäre besser gewesen, wenn es dabei geblieben wäre.«
Jack räusperte sich. »Ich weiß nur, daß ich von jetzt an jeden Augenblick mit einem Anruf von Masters rechnen muß. Er wird kommen.«
»Aber er kann dich doch nicht verhaften, Jack! Was für Beweise hat er denn?«
»Es hat keinen Sinn, alles noch mal durchzusprechen, Vera. Motiv und Gelegenheit sind durchaus genug. Wenn Masters mich nicht aufgrund direkten Beweismaterials überführen kann, so kann ich doch ebensowenig meine Unschuld beweisen. Am Ende haben wir dann Indizien, die wie Beweise aussehen, aber keine sind.«
»Aber das ist nicht fair! Das lasse ich nicht zu!«
»Du kannst nichts daran ändern. Ich will auch nicht, daß du dich da einmischst. Ich bin der allergrößte Idiot gewesen, und jetzt muß ich dafür büßen. Tut mir leid, Vera.«
»Alles wird gut werden. Du wirst sehen.«
»Ja, mein Liebes.«
»Jack, warum ziehen wir nicht um? Ich möchte so gerne in ein anderes Stadtviertel ziehen.«
»Wenn’s nicht zu spät dazu ist«, sagte Dr. Richmond.
Es war später, als sie dachten. Schon am nächsten Abend kam Masters zu Dr. Jack Richmond. Normalerweise wäre es anders herum gewesen – Dr. Richmond wäre zu Masters bestellt worden, doch Masters hatte in der Nachbarschaft zu tun gehabt. Um genau zu sein, im Haus nebenan.