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Nancy machte auch eine dahingehende Bemerkung, und Vera lachte und zeigte dabei ihre langen Schneidezähne. Sie nahm Nancy mit in die Küche, wo weitere Platten, Schüsseln und Teller mit allerlei Leckerbissen bereitstanden. Auf eines durfte man sich bei Vera Richmond verlassen: Auf ihren Partys gab es stets nur das Beste vom Besten. Selbst bei einer so kleinen Sache wie dieser, wo nur ein paar Nachbarn zum Bulettenessen kamen. Kein Gedanke an Hackfleisch, das zu fünfzig Prozent aus Fett bestand! Vera kaufte immer das teuerste Rindfleisch und reichte die köstlichsten Beigaben dazu. Sie war Krankenschwester an dem Krankenhaus gewesen, an dem Jack Richmond hospitiert hatte und kam aus einer sehr armen Familie, deren zahlreiche Kinder niemals genug zu essen bekommen hatten.

Noch zweimal gingen sie hin und her, dann war alles draußen auf der Terrasse. Inzwischen waren auch Lila und Larry Connor herübergekommen und ebenfalls Mae und Stanley Walters von jenseits des Gäßchens. Lila unterhielt sich mit David, Larry sprach mit Mae, und Stanley stand am Grill bei Jack, der aus einem tragbaren Eiskasten die saftigen, dunkelroten Fleischklopse nahm und sie nebeneinander auf den Rost legte.

»Also«, sagte Nancy, »wieso kriegen eigentlich ausgerechnet die, die alle Arbeit tun, kein Bier?«

Sofort ging Stanley Walters ans Faß, zapfte zwei Glas Bier und reichte sie Vera und Nancy mit einer Bewegung, die er für galant-schwungvoll hielt. Stanley war unbeholfen und fett, und alles, was er tat, wirkte wie unbeabsichtigte, doch eher absurde als komische Clownerie. Er war als Manager der Filiale eines Schuhladenunternehmens in die Stadt gekommen, hatte aber bald seinen Job verloren, und Mae hatte ihm zugeredet, ein Bankdarlehen aufzunehmen und selbst ein Geschäft aufzumachen. Schuhe für die ganze Familie, zu Familienpreisen. Nach einem schleppenden Start begann es jetzt langsam zu florieren. Das Darlehen war fast ganz zurückgezahlt. Mae hielt die Bücher in Ordnung, und sie hielt auch Stanley in Ordnung. Mae war groß und hatte leuchtend rotes Haar und weiße Haut, die keine Sonne vertrug. Für ihre Größe war sie nicht zu dick, aber sie hatte große Brüste und breite Hüften und wirkte dadurch schwerer als sie war.

»Der Nektar der Götter für unsere Göttinnen«, strahlte Stanley.

»Stanley«, sagte Mae und wandte sich um, »es ist noch zu früh, dich zum Narren zu machen. Warte doch bitte, bis du wenigstens zwei Bier getrunken hast.«

Stanley hatte kein Talent zur Verstellung. Er errötete und biß sich auf die Lippen wie ein kleiner Junge, der mühsam die Tränen zurückhält. Stumm ging er zum Grill zurück. Unglücklicherweise mußte er an Lila vorbei. Sie streckte die Hand aus und nahm ihn beim Arm.

»Stanley, Liebling«, sagte sie, »du hast mir noch keinen Willkommenskuß gegeben. Was ist los? Bist du mir böse?«

Einladend hob sie das Gesicht, und Stanley küßte sie mit dem automatischen Reflex eines guttrainierten Hundes. Doch sogleich wurde ihm klar, was er getan hatte, und er machte ein ganz entsetztes Gesicht. Betretenes Schweigen überall. Dann rettete David die Situation.

»Ich möchte mal wissen«, grollte er, »warum Stanley bevorzugt wird. Ich habe auch noch niemandem einen Willkommenskuß gegeben.«

Und er gab Lila einen Kuß, der Nancy verdächtig liebevoll vorkam, doch dann sagte Larry Connor: »Wie heißt’s in der Bibel? Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Und er kam zu Nancy herüber und küßte sie mit einer Leidenschaft, die sie nicht ganz für gespielt hielt. Mae Walters, die eigentlich näher bei der Hand gewesen wäre, schien das auch zu spüren, doch Jack Richmond machte das wieder gut, indem er prompt seinerseits Mae abküßte, und dann küßte jeder jeden, und die Party war gerettet.

Kurz darauf waren die Buletten gar und konnten vom Grill genommen werden. Alle fingen an zu essen und statteten auch fleißig dem Fäßchen Besuche ab. Selbst Mae war schließlich so gelöst, daß sie sich der betonten Aufmerksamkeit Dr. Jacks, die dazu beitragen sollte, dem armen Stanley gut Wetter zu verschaffen, ehrlich freuen konnte.

Kurz nach acht begann es dunkel zu werden, und eine schmale Mondsichel wanderte am Himmel herauf. Die Party kam in Schwung.

Etwas später – so zwischen neun und zehn – fand sich Nancy mit Larry Connor auf einer Rotholzbank. Lilas Mann hatte ein Glas nach dem anderen gekippt und war immer nüchterner, deprimierter und enttäuschter geworden. Nancy hatte immer gefunden, daß Larry enttäuscht wirkte. Enttäuscht von seiner Liebe, die erkaltet war; enttäuscht von einer Arbeit, die ihm keine Freude mehr machte; enttäuscht von seinen Hoffnungen, die sich nicht erfüllt hatten: Larry hätte Dichter werden sollen, fand Nancy. Zumindest sah er so aus: heiße Augen, schmal und dunkel, schwarzes Haar, immer ein wenig wirr. Er erinnerte sie an François Villon. François Villon, wie er die Mauern seines geliebten Paris verließ, um für immer zu verschwinden.

»Wie war Paris, als du es verließest?« fragte Nancy ernsthaft.

»Was?« fragte Larry Connor.

»Ach nichts, Larry. Ich hab nur ‘nen kleinen Schwips.«

»Ist er groß genug, um einen nachbarlichen Kuß zu gestatten?«

Er küßte sie, bevor sie etwas entgegnen konnte, und sie war erstaunt und gerührt, weil dieser Kuß nur kurz und sehr zärtlich war, und ganz und gar nicht die Einleitung zu weiteren Intimitäten zu sein schien, die hätten zurückgewiesen werden müssen.

»Du bist ein liebes Mädchen, Nancy«, sagte Larry Connor. »Ich wünschte, ich wäre David.«

»Warum denn? David ist jetzt bestimmt irgendwo in der Nähe und küßt Lila.«

»Wenn das wahr ist, so helfe ihm Gott.«

»Ach, hör auf, Larry. Lila ist eine schöne Frau. Sie sieht Natalie Wood so ähnlich, daß es schon richtig gemein ist.«

»Wirklich? Ist mir noch nicht aufgefallen. Ich glaube, ich habe mein Wahrnehmungsvermögen verloren. Und auch die Fähigkeit, zu empfinden.«

»Armer Larry! Alt und hinfällig geworden.«

»Na schön, das klingt vielleicht hochtrabend, ist aber wahr. Ich habe kürzlich viel über F. Scott Fitzgerald nachgedacht«, sagte Larry unvermittelt.

»Vielleicht solltest du Jack bitten, daß er dir etwas dagegen verschreibt.«

»Ja, vielleicht. Fitzgerald hatte eine Art Leitspruch, weißt du. Das Schlimmste im Leben ist, wenn man die Fähigkeit verliert, intensiv zu empfinden. Entartung nannte er es. Entartung der Lebenskraft. Horch doch mal einen Augenblick, Nancy. Was hörst du?«

Nancy lauschte. Doch in ihrem Kopf wirbelte es, und alles, was sie hörte, war ein angenehmes Klingen im Ohr – größtenteils Musik, die aus Jacks Hi-Fi-Anlage im Haus auf die Terrasse herausdrang.

»Nicht viel«, sagte sie.

»Siehst du, das meine ich. Um uns herum gibt es unzählige Geräusche, aber wir vernehmen sie nicht. Kannst du dich noch erinnern, was du als Kind in einer Nacht wie dieser empfunden hast? Ich zum Beispiel saß immer da und lauschte auf jedes Geräusch für sich. Es war ein intensiv trauriges, fast quälendes Gefühl – eine Art bitterer, herrlicher Ekstase. Doch nun ist das alles vorbei. Ich erinnere mich daran, aber ich höre und empfinde es nicht mehr.«

»Du mußt dir nur Mühe geben, Larry. Dann kommt es wieder.«

»Nein, es kommt nicht wieder. Niemals.«

Larry war so merkwürdig, daß Nancy unruhig wurde. Gleichzeitig verspürte sie den Wunsch, seinen Struwwelkopf an ihre Brust zu ziehen. Sie unterdrückte ihn jedoch. Er entsprang hauptsächlich der Wirkung des Alkohols, sagte sie sich, und konnte leicht zu einem Gefühl überleiten, das gefährlich mehr war als mütterliche Zärtlichkeit. Sie wartete, daß Larry weitersprach.

»Weißt du eigentlich, wie ich Lila kennengelernt habe?« fragte er. »Hat Lila dir das mal erzählt?«

»Nein.«

»Na, ist ja auch egal. Sie hätte dir auch nur Lügen aufgetischt.«

»Larry, so etwas darfst du nicht sagen! Du bist betrunken, sonst hättest du das nicht gesagt.«