Masters bewegte sich trotz seines schweren Körpers bemerkenswert flink. Im Bruchteil einer Sekunde war er im Büro. Doch da war niemand. Im Vorzimmer, also… Er hatte es fast erreicht, als das erstickte Weinen abbrach. Er riß die Tür auf, und da saß, in dem verdunkelten, staubigen Vorzimmer, an ihrem ehemaligen Schreibtisch Ruth Benton, die Arme auf der Platte, den Kopf auf den Armen. Als sie ihn hörte, hob sie den Kopf. Ihr Gesicht war rot und verschwollen, das Makeup völlig verschmiert. Sie schien ganz und gar nicht erschrocken – fast als habe sie ihn erwartet. Aber Masters war erschrocken; er hatte vergessen, daß sie einen Schlüssel zu Connors Büro besaß.
»Miss Benton«, sagte er sanft. »Was machen Sie hier?«
Larry Connors Sekretärin wußte entweder nicht, was ihr Gesicht verriet, oder es kümmerte sie nicht. »Ich wollte meine Sachen holen«, sagte sie bedrückt. »Ich dachte, es würde mir nichts ausmachen, aber als ich hier hereinkam und den vielen Staub sah, und die Leere, da wurde mir erst klar…« Ruth Benton zuckte die Achseln. »Es hat mich einfach gepackt. Ich bin zusammengeklappt und habe geheult wie ein Baby. Typisch Frau, nicht wahr, Leutnant?«
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte auch zusammenklappen und heulen wie ein Baby«, sagte Masters. »Deswegen braucht man sich doch nicht zu schämen.«
»Ach, jetzt bin ich darüber hinweg«, sagte das Mädchen.
»Verzeihen Sie bitte. Ich glaube, ich hätte nicht herkommen dürfen. Ich werde nicht wiederkommen.«
»Lassen Sie nur den Schlüssel hier, Miss Benton.«
»Ich habe ihn schon dort in die Schublade gelegt. Möchten Sie nachsehen, was ich mitnehme? Es sind nur persönliche Dinge.«
»Danke, das ist nicht nötig«, sagte Masters, warf aber doch einen Blick auf das Durcheinander von Puderdosen, Haarnadeln, Papiertaschentüchern, Kugelschreibern und ähnlichem Krimskrams, das sie auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Sie packte alles in ihre Handtasche. »Larry Connor muß Ihnen viel bedeutet haben.«
»Mehr als ich ihm, fürchte ich«, sagte sie.
»Wie kommen Sie darauf, Miss Benton?«
»Er hat sich doch umgebracht, nicht wahr?«
»Fällt es Ihnen schwer, die Tatsache zu akzeptieren, daß er seine Frau umgebracht hat?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Wie Sie wollen«, sagte Masters, und sie sah mit leicht gerunzelter Stirn zu ihm auf. »Und wenn ich Ihnen nun sage, daß er es nicht getan hat?«
»Daß er was nicht getan hat?«
»Seine Frau umgebracht.«
»Ach so.« Ihre Schultern sanken wieder nach vorn. »Sie meinen, wegen des Brieföffners? Er kann ihn am Tag zuvor mit nach Hause genommen haben. Ich kann jedenfalls nicht beschwören, daß er das nicht getan hat.«
»Wie lange hatte er ihn schon auf seinem Schreibtisch?«
»Seit Jahren. Er hatte ihn schon, als ich anfing, bei ihm zu arbeiten.«
»Und dann nahm er ihn auf einmal mit nach Hause? Nun ja, auf jeden Fall haben wir Grund anzunehmen, daß in der Nacht, als Larry Connor starb, jemand zusammen mit ihm hier im Büro war.«
»Warum erzählen Sie mir das? Glauben Sie, daß ich es war?«
»Waren Sie es denn?«
»Nein«, sagte Ruth Benton. »Ich wollte, ich wär’s gewesen. Dann wäre er jetzt noch am Leben.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
»Nicht die geringste.«
Masters sah sich um. »Waren Sie heute schon im Büro?«
»Nein. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen.«
Masters geleitete sie hinaus und schloß die Haustür ab. Er machte im Vorzimmer das Licht aus und ging in Larry Connors Büro.
Einen Augenblick starrte er auf das Sofa. Dann ging er mit langsamen Schritten in den Waschraum, wo er noch einmal das Apothekenschränkchen durchsuchte. Er fand nichts und kehrte ins Büro zurück.
Er setzte sich an Larry Connors Schreibtisch und dachte nach. Nicht ein Gedanke kam ihm, kein einziger. Er grübelte und grübelte, und seine Gedanken fanden nichts, das ihm nicht schon vertraut und durchaus unergiebig gewesen wäre. Er verfluchte die drückende Hitze.
Und plötzlich merkte er, daß er die ganze Zeit auf das Telefon auf Larry Connors Schreibtisch gestarrt hatte. Das Telefon. Das Telefon!
Das Telefon hatte er ganz vergessen.
Und jetzt begannen seine Gedanken den Ablauf des Geschehens noch einmal im Hinblick auf das Telefon zu durchwandern. Sie führten ihn einen verschlungenen, gewundenen Pfad zurück. Nachdem er alles durchdacht hatte, begann er seine Gedanken zu ordnen.
Larry Connor hatte in jener Nacht das Haus nach einem Streit mit seiner Frau um Mitternacht oder kurz danach verlassen. Nancy Howell hatte sich nicht auf den genauen Zeitpunkt besinnen können. Das spielte jedoch keine Rolle; wichtig war einzig der Zeitpunkt, zu dem Larry hier im Büro angelangt war.
Wenn er von zu Hause direkt hergefahren war, dürfte er nicht mehr als etwa zehn Minuten für den Weg gebraucht haben. Doch angenommen, er war nicht direkt hergefahren? Ein Mann wie Connor mit seinen Sorgen und seinem Gemütszustand mochte sehr wohl erst noch in einer Bar haltgemacht haben. Gleichwohl ließ Masters die Bar-Theorie wieder fallen, denn keiner der Barkeeper aus den finsteren Kneipen, die die Polizeistunde nicht einhielten, hatte ihn angeblich gesehen. Verständlicherweise.
So verständlich sogar, daß ihre Aussagen wertlos waren. Jeder dieser Barkeeper hätte geleugnet, den Mann gesehen zu haben, der jetzt tot und die Sensation der kleinen Stadt war. Weshalb sich in so etwas verwickeln lassen und das überaus labile Gleichgewicht stören, mit dem sich solche außergesetzliehe Kneipen im Geschäft hielten?
Angenommen also, Larry Connor hatte tatsächlich eine Kneipe besucht und sich betrunken. Manche dieser Lokale waren regelrechte Lasterhöhlen, und ein Betrunkener konnte in üble Situationen geraten. Knockout-Tropfen waren dort nur zu gebräuchlich. Mit einer dicken Brieftasche konnte man sie leicht bekommen, entweder vom Barkeeper selbst, oder von einem dieser unangenehmen Typen, die dort herumsaßen. Und wenn man verzweifelt war…
Seltsam, diese Theorie schien wiederum darauf hinzudeuten, daß Larry Connor doch Selbstmord begangen hatte. Laß dich nicht durch den Mord an Lila beirren, sagte sich Masters energisch; denk jetzt nicht mehr daran. Und auch nicht an die Klimaanlage. Denk nur noch an Connor hier im Büro!
Nehmen wir einmal an, daß Larry Connor beschlossen hatte, sich umzubringen, und sich zu diesem Zweck Chloralhydrat besorgt hat, einfach, weil er an einem Punkt angelangt war, wo er den Tod dem Weiterleben vorzog. Er war hierher in dieses heiße Zimmer gekommen, das Chloralhydrat in der Faust, hatte sich den tödlichen Mickey Finn bereitet, ihn geschluckt, und sich dann aufs Sofa gelegt, um auf den Tod zu warten.
Und nun: Larry in bezug auf Lila und den Mord an ihr. Er hatte sie nicht umgebracht. Das stand fest; das bewiesen die falschen Fingerabdrücke auf der Mordwaffe. Jemand anders hatte die Waffe benutzt und nur Larrys Abdrücke daraufpraktiziert. Und dieser Jemand hätte das nicht tun können, wenn Larry nicht schon tot gewesen wäre. Und daher mußte Lilas Mörder hier in diesem Büro gewesen sein, während Larry starb oder bereits tot war, mußte gekommen sein, nachdem Larry aus freien Stücken eine Überdosis Chloralhydrat geschluckt hatte. Der Mörder mußte hier gewesen sein, einmal, um in den Besitz von Larry Connors Brieföffner zu gelangen, und zweitens, um Connors Fingerabdrücke darauf zu praktizieren und ihm den Mord anzuhängen, an den er selbst nie gedacht hatte.