Der tote Larry war zum Sündenbock gemacht worden.
Doch wenn Lilas Mörder nicht ebenfalls für Larrys Tod verantwortlich war, zumindest so, daß er ihn geplant hatte, wie in drei Teufels Namen hatte er wissen können, daß Larry hier im Büro lag und starb, oder schon tot war? Und wenn Larry tot war oder im Sterben lag, wie war der Unbekannte hereingekommen? Sicher, da war der Schlüssel zur Haustür – nicht Larry Connors Schlüssel, sondern der Schlüssel, der erst vorhin im Vorzimmer in die Schreibtischschublade gelegt worden war, und zwar von…
Ruth Benton.
Masters überlegte.
Larrys Sekretärin hatte ihren Chef geliebt. Was hätte sie getan, wenn sie ihn in jener Nacht im Büro gefunden hätte, tot, ganz offenbar zum Selbstmord getrieben von seiner eigenen Frau? Wäre Ruth, außer sich vor Zorn und Trauer, losgegangen, um ihn an Lila zu rächen? Wäre sie, in dem Zustand, in dem sie sich befand, zu derart ausgeklügelten Täuschungsmanövern, wie sie Lilas Mörder angewandt hatte, imStande gewesen? Und überdies, ein Zusammentreffen im Büro, samstags nach Mitternacht, ein Besuch auf gut Glück, wäre das nicht ein zu großer Zufall? Obgleich ein Zufall niemals ganz auszuschließen war. Trotzdem schob Masters diese Möglichkeit beiseite. All die Verwicklungen dieses Falles zeigten zu deutlich die Absicht, die dahintersteckte. Nein, es war ausgeschlossen, daß der Selbstmord durch Zufall entdeckt worden war. Doch angenommen… angenommen, der Besuch wäre gar kein Zufall gewesen. Angenommen… angenommen, Larry Connor hätte sie angerufen?
Das Telefon.
Das Telefon war vielleicht der Schlüssel zu all diesen mysteriösen Vorgängen!
Ein Mann nimmt ein Medikament, das ihn töten muß. Er nimmt es freiwillig und legt sich zum Sterben. Wie viele Selbstmörder, fest entschlossen zu sterben, besinnen sich im Angesicht des Todes ganz plötzlich eines Besseren? Das kam doch jeden Tag vor; die Akten der Polizei und der Krankenhäuser waren voll von solchen Fällen.
Angenommen, Larry Connor hatte nach dem Einnehmen des Medikaments und dem Auftreten der ersten Anzeichen seiner Wirkung plötzlich festgestellt, daß er gar nicht sterben wollte?
Angenommen, er hatte telefonisch um Hilfe gebeten?
Geduckt saß Masters an Larry Connors Schreibtisch; er triumphierte. Jetzt hatte er es. Es war wie Weiterschwimmen nach dem Überwinden des toten Punktes; eben noch bleischwere Glieder, keine Atemluft, keinen Mut… und dann plötzlich, unversehens, leichter Atem, die Glieder kraftvoll ausholend, siegessicher dem Ziel zustrebend. Er hatte es!
Das Medikament ist eingenommen. Larry Connor liegt auf dem Sofa und wartet auf den Tod. Und während er wartet, erscheint ihm der Tod immer schrecklicher. Entsetzen überfällt ihn. Er will doch noch leben – trotz allem. Und deshalb braucht er Hilfe, dringend, verzweifelt, denn das Medikament beginnt schon zu wirken.
Er ist benommen, seine Gedanken wirbeln, sein Kopf ist dumpf. Da steht das Telefon… Wird er es schaffen? Er kämpft sich hoch, schleppt sich zum Schreibtisch, nimmt mühsam den Hörer ab. Er wird anrufen – aber wen? Vielleicht weiß er, wen; vielleicht versucht er es. Doch er kann sich nicht auf die Nummer besinnen, oder sein geschwollener Zeigefinger versagt ihm den Dienst beim Wählen. Was soll er tun?
Das Amt anrufen. Eine Zahl wird er wählen können.
Das Fräulein vom Amt antwortet. Er bittet sie, für ihn anzurufen – aber wen? Ruth Benton? Elend, hilfsbedürftig, hätte er da Ruth Benton angerufen?
Nein. Für einen Mann, der an einer Überdosis eines Medikamentes stirbt, das er selbst eingenommen hat, gibt es nur eine Rettung.
Einen Arzt.
Seinen Arzt?
Masters lehnte sich zurück. Diese Frage brauchte er nicht mehr zu beantworten. Die Antwort konnte ihm das Fräulein vom Amt geben. Sie würde sich an den Anruf erinnern und an die Nummer, die verlangt worden war.
Bestimmt würde sie sich erinnern. Masters war ganz sicher. Er zweifelte ebensowenig daran wie an der Richtigkeit der Gedankengänge, die ihn bis hierher geführt hatten.
Er hatte recht. Das war die Lösung.
16
Er drückte auf den Klingelknopf und lauschte auf das harmonische Geläut der Türglocke. Die Sonne knallte vom grellblauen Himmel. Die Glocke verklang, und nach kurzem Warten hob er abermals den Zeigefinger, drückte noch einmal auf den Knopf und wartete wieder, in die grelle Sonne blinzelnd. Vielleicht sollte er es einmal an der Hintertür versuchen.
Doch auch auf sein Klopfen an der Hintertür regte sich nichts.
Sein Blick wanderte nach rechts, über den Connorschen Garten hinweg zum Garten der Howells hinüber. Nancy Howell war sicher zu Hause, und er beschloß, sie noch ein letztes Mal zu stören.
Als Nancy die Tür öffnete, sah er sogleich, daß er unwillkommen war. Er fühlte sich bemitleidenswert und ausgestoßen, doch er machte sich hart. Er war viel zu alt und zu müde, um etwas zu bedauern, das nicht zu ändern war.
»Guten Morgen«, sagte Masters. »Tut mir leid, daß ich Sie wieder einmal stören muß.«
»Na, hoffentlich tut es Ihnen leid«, sagte Nancy. »Und hoffentlich stören Sie mich nie wieder, niemals. Ich habe alles getan, um Ihnen zu helfen, und was habe ich damit erreicht? Kummer und Sorgen habe ich über die Menschen gebracht, die ich schätze und achte.«
»Ich bin derjenige, der den Kummer gebracht hat, Mrs. Howell, nicht Sie. Das gehört leider zu meinem Job.«
»Ein ekelhafter Job, das muß ich schon sagen!«
»Ein ganz ekelhafter Job. Aber jemand muß ihn tun. Neulich abends bei den Richmonds, zum Beispiel. Glauben Sie, mir hätte das Spaß gemacht?«
»Sie waren einfach widerlich brutal, Leutnant Masters!«
»Brutal!« Diese offenbare Ungerechtigkeit erschütterte Masters sichtlich. »Na schön, vielleicht haben Sie recht. Ich kann’s Ihnen nicht übelnehmen, wenn Sie so denken. Aber um es kurz zu machen: Wissen Sie zufällig, wo die Richmonds sind? Es macht niemand auf.«
»Nun, Jade ist Arzt«, sagte Nancy kühl, »und da darf man wohl annehmen, daß er seinen ärztlichen Pflichten nachgeht.«
»Und Mrs. Richmond?«
»Wenn Vera nicht zu Hause ist, weiß ich auch nicht, wo sie ist. Vielleicht in der Stadt oder auf dem Markt.«
»Tja, dann will ich mich mal auf die Suche nach Dr. Richmond machen.«
»Ich wollte, ich könnte Ihnen viel Erfolg wünschen, aber ich tue es nicht.«
»Danke«, sagte Masters bedrückt. »Vielen Dank, daß Sie immerhin so weit gehen.«
Er hatte den Hut in der Hand behalten. Jetzt stülpte er ihn achtlos auf den kahl werdenden Schädel und ging ums Haus herum auf die Straße, und quer über die Straße zu seinem Wagen. Er hörte, wie Nancy wütend die Hintertür zuwarf. Sie hat mich noch nicht mal hereingebeten, dachte er. Er stieg in den Wagen und fuhr in die Stadt.
Dr. Jack Richmonds Praxis lag im neuen Medizinerblock, einem nüchternen, einstöckigen Bau aus Glas und grünen Ziegeln, mit einem Vorgarten, dessen Rasen so üppig war, daß er künstlich wirkte. Master? trottete durch die Halle, an der blitzblanken Apotheke vorbei, und einen langen, steril wirkenden Korridor entlang bis zu einer Holztür, auf der in verchromten Buchstaben >John R. Richmond, M.D.< geschrieben stand. Masters trat ein.
Das Wartezimmer war leer.
»Dr. Richmond ist nicht da«, sagte die Sprechstundenhilfe in ihrem Glaskasten. »Sind Sie bestellt?«
»Ich bin kein Patient«, sagte Masters. Er öffnete das Etui mit seiner Marke, und ihre Augen wurden schmal. »Wo ist er?«
»Um diese Zeit ist er sonst immer vom Krankenhaus zurück«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Aber er hat angerufen, daß er einen dringenden Fall hat und nicht weiß, wann er kommen kann.«
»Einen dringenden Fall? Im Krankenhaus?«