»Das weiß ich wirklich nicht.«
»Hören Sie, Schwester«, sagte Masters geduldig. »Jede Sprechstundenhilfe weiß stets genau, wo sich ihr Chef zur Zeit befindet. Also: ist er im Krankenhaus?«
»Ich glaube ja.« Sie hatte Angst. »Ja.«
Masters fuhr ins Krankenhaus. Dr. Richmond operierte. Appendektomie. Er mußte warten.
Masters fluchte verhalten. Er stand herum. Er las die Krankenhausordnung. Er betrachtete eingehend einen großen Druck, auf dem sich eine Gruppe weißbekittelter Männer über einen nackten Mann auf einem rohen Küchentisch beugen. Das Bild hieß >Die Chirurgen<. Er blätterte in ein paar Illustrierten.
Plötzlich konnte er das Warten nicht länger ertragen. Mit schnellen Schritten ging er zum Lift. Einer war gerade da; die Tür stand offen. Er trat hinein und preßte den Finger auf den Knopf zur fünften Etage. Im Schneckentempo schloß sich die Tür. Der Aufstieg zum obersten Stock dauerte Ewigkeiten.
Dann bezog Leutnant Masters vor den großen Doppeltüren des Operationssaals Posten.
Mit dem Rücken zur Wand.
Symbolisch.
17
Zuerst Lila, dachte Nancy, und jetzt Vera.
Hörte das denn nie mehr auf, daß Leute aus Shady Acres verschwanden? Ein unheimliches Gefühl.
Es war natürlich Unsinn zu denken, daß Vera >verschwunden< sei. Sie war einfach ausgegangen. Vermutlich kaufte sie gerade jetzt bei Logan oder im Supermarkt ein oder war beim Friseur. Es gab massenhaft Orte, wo sie sein konnte. Ganz sicher war es einfach dumm, sich um sie Gedanken zu machen. Daran war nur dieser verdammte Leutnant Masters schuld. Jedesmal, wenn er auftauchte, brachte er eine unheilschwangere Atmosphäre mit. Vera war ganz sicher wohlauf.
Trotzdem ertappte sich Nancy in der ersten Stunde nach Masters’ Abgang immer wieder dabei, daß sie zum Richmondschen Haus hinüberblickte. Keine Spur von Vera. Aber man konnte wohl kaum erwarten, daß sie auf die Terrasse herauskam, um zu zeigen, daß sie wieder da war. Sie war vielleicht längst zu Hause. In diesem Fall mußte ihr Volkswagen, den sie fuhr, wenn Jack die Corvette mitgenommen hatte, in der Einfahrt stehen.
Nancy ging ins Wohnzimmer und spähte aus dem Fenster.
Der Volkswagen stand weder in der Einfahrt noch auf der Straße.
Natürlich, Vera konnte ihn in die Garage gefahren haben. Aber Grübeln hilft nichts, sagte sich Nancy. Das einfachste wäre, Vera unter irgendeinem Vorwand anzurufen, um zu sehen, ob sie wohlauf war.
Nancy ging ans Telefon im Flur und wählte die Nummer der Richmonds.
Sie ließ es achtmal klingeln; niemand meldete sich. Nancy legte wieder auf.
Vera war eben nicht zu Hause. Aber warum war denn da diese hartnäckige, kleine Stimme, die Nancy immer wieder sagte, daß sie doch zu Hause sei?
Vielleicht hatte Vera ihre Gründe, warum sie nicht ans Telefon und an die Haustür ging. Nein, das war unwahrscheinlich. Als gute Arztfrau wußte Vera, daß jeder Anruf wichtig sein konnte…
Nancys Unruhe wurde langsam zu Angst. Ganz gleich, wie unvernünftig, wie absurd dieses Gefühl war, es war einfach unerträglich geworden. Sie mußte entweder dagegen angehen, und das konnte sie nicht, oder etwas unternehmen.
Zunächst einmal lief Nancy über die Straße zu der ans Haus grenzenden Garage der Richmonds. Die Tür war geschlossen, doch wenn Nancy sich auf die Zehen stellte, konnte sie gerade eben durch eines der drei winzigen Fenster hineinsehen. Sie machte sich so groß sie konnte und blickte hinein, und da stand der Volkswagen. Wenn Vera wirklich fort war, mußte sie entweder zu Fuß gegangen sein, oder Jack hatte sie gefahren. Doch Vera haßte Fußmärsche, und Jack fuhr gewöhnlich schon ins Krankenhaus, oder in die Praxis, wenn Vera noch im Bett lag…
Nancy ging an die Hintertür. Einen Augenblick zögerte sie, dann drehte sie den Türknopf und begann vorsichtig zu drücken. Zu ihrer Überraschung gab die Tür nach. Vera fort, und die Tür nicht verschlossen?
Nancy betrat Vera Richmonds Küche. Die Klimaanlage machte die Luft kühl und trocken, und Nancy fühlte sich leicht und wie befreit. Doch gleichzeitig fühlte sie sich bedrückt und erstickt vom Gefühl eines drohenden Schreckens, das jeden Schritt zur Qual machte.
Sie hielt den Atem an, legte den Kopf schief und lauschte. Kein Laut war zu hören. Ein leeres Haus.
Trotzdem rief Nancy: »Veee-raaa!« Und wartete. »Vera, bist du da?«
Keine Antwort. Nancy zwang sich, in die Diele zu gehen.
»Vera?«
Keine Antwort.
Was, dachte Nancy, würde ich wohl sagen, wenn jetzt die Haustür aufginge und Vera hereinkäme? Wie erklärt man seine Anwesenheit im Hause des Nachbarn, wenn man erwischt wird? Verstört lachte sie. Verdammt noch mal, irgendwas stimmte hier nicht, das wußte sie. Entschlossen ging sie ins Wohnzimmer.
Es war ein wunderschöner Raum, um den Nancy die Richmonds seit langem heimlich beneidete. Doch jetzt verspürte sie keinen Neid. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die massive Mahagonitür gegenüber. Warum, wußte sie nicht.
Hinter jener Tür lag Jack Richmonds Arbeitszimmer.
Hinter jener Tür lag etwas Grauenhaftes. Das wußte sie. Woher, das konnte sie nicht sagen, aber sie wußte es.
Wie eine Schlafwandlerin durchquerte sie das Wohnzimmer, öffnete die schwere Tür und blickte in Jack Richmonds Arbeitszimmer. Und da saß Vera Richmond, genau wie Nancy im stillen erwartet hatte. Sie saß in einem großen, hochlehnigen Ledersessel, das Gesicht zur Tür gewandt, fast als erwartete sie Besuch und säße da und wartete. Doch sie wartete nicht; sie war tot.
Sie war tot, und Nancy war so sicher, daß sie tot war, daß sie nicht einen Schritt weit in den Raum hinein ging. Sie stand nur da und betrachtete ihre Freundin mit einem ganz seltsamen Gefühl des Losgelöstseins. Es hatte keine Eile mehr.
Vera hatte sich zum Sterben frisiert, Make-up aufgelegt, und ein frisches, leuchtend buntes Sommerkleid angezogen. Sie sieht hübsch aus, dachte Nancy. Und gelassen. Die Vorhänge des Aussichtsfensters hinter ihr waren zurückgezogen, und der Sonnenschein, der durch die Schlitze der Jalousie hereinfiel, zeichnete eine Treppe aus Licht auf den glänzenden Parkettboden… eine Treppe vom Leben zum Tode. Ein schöner Raum zum Sterben.
Vera war tot.
Vera tot? Unvorstellbar. Vera war doch immer dagewesen, ruhig, heiter, tüchtig, selbstlos. >Meine rechte Hand<, wie Jack zu sagen pflegte. Vera war ein Mensch, der immer da war.
Und jetzt war sie hier und saß tot in ihres Mannes Sessel, unerwartet, unerklärlich, unvorstellbar tot. Und die Frage war: Warum? Sie konnte sich doch nicht frisiert, geschminkt und ein frisches Kleid angezogen haben, nur um sich an einem herrlichen Sommermorgen hinzusetzen und zu sterben! Aber sie hatte es getan. Sie war gestorben, und nur sie wußte, warum. Sie hatte Zeit und Ort selbst gewählt.
Nancy fuhr herum und sah den Schreibtisch mit seiner geschliffenen Mahagoniplatte, der Schreibtischsessel zurückgeschoben, als habe sich gerade jemand erhoben und sei fortgegangen. Vera. Denn auf dem Schreibtisch lagen unter einem Briefbeschwerer aus blauem Glas zwei mit Veras kräftigen Schriftzügen bedeckte Briefbogen. Sie hatte sich hierhergesetzt, um vor ihrem Tod noch etwas aufzuschreiben, vielleicht sogar, während sie auf den Tod wartete. Und da lag ihr Brief, da unter dem Briefbeschwerer…
Zu ihrer eigenen Überraschung stand Nancy plötzlich am Schreibtisch. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie hinübergegangen war. Und jetzt schob sie mit den Fingernägeln den Briefbeschwerer beiseite, beugte sich über den Tisch und las, ohne die Blätter zu berühren, was Vera geschrieben hatte.
Liebster Jack,
seit jenem Abend auf unserer Terrasse habe ich mit furchtbarer Gewißheit gewußt, daß Leutnant Masters zurückkommen würde. Heute morgen ist er gekommen. Er klingelte an der Haustür, dann ging er ums Haus nach hinten. Aber ich habe nicht aufgemacht, und nach einer Weile ging er wieder fort. Nun weiß ich, was ich tun muß. Bitte, Liebster, vergib mir, wie ich Dir vergeben habe.