Als er sich zu einem Schlafball zusammenrollte, merkte der Kapitän, dass er lächelte. Es war kein freudiges Lächeln. Das Spreizen der Lippen erfolgte aufgrund eines Paradoxons, das so tief einschnitt, dass man auf keine andere Weise darauf antworten konnte. Er hatte während des ganzen Gesprächs mit den Gefangenen Angst gehabt, dass sie eine unangenehme Schlussfolgerung ziehen könnten: Sobald sie erfahren hatten, dass sich die Assassinen in einem Schwarzen Loch versteckt hielten, hätten sie leicht den Verdacht schöpfen können, dass die Hitschi es ebenso gemacht hatten. Damit wäre das Kerngeheimnis der Hitschi-Rasse gefährdet gewesen!
Gefährdet! Er hatte viel mehr getan, als es nur gefährdet! Völlig auf eigene Verantwortung, ohne höhere Stellen, die es ihm erlaubt oder verboten hätten, hatte der Kapitän die schlafende Flotte geweckt und Verstärkung aus dem Inneren des Ereignishorizonts herbeigerufen. Das Geheimnis war kein Geheimnis mehr. Nach einer halben Million Jahre kamen die Hitschi heraus aus ihrem Versteck.
Wo war ich eigentlich? Es dauerte eine Zeit lang, bis ich mir diese Frage beantworten konnte, nicht zuletzt deshalb, weil mein Mentor Albert sie als albern abtat. »Die Frage ›wo‹ ist eine törichte menschliche Voreingenommenheit, Robin«, fuhr er mich an. »Konzentriere dich! Lerne, wie man etwas tut und fühlt! Heb dir die Philosophie und die Metaphysik für diese langen ruhigen Abende mit einer Pfeife und einem guten Krug Bier auf!«
»Bier, Albert?«
Er seufzte. »Die elektronische Entsprechung von Bier«, verbesserte er sich unwirsch, »ist für die elektronische Entsprechung einer Person durchaus ›wirklich‹. Jetzt achte aber, bitte, auf die Inputs, die ich dir anbiete. Das sind Video-Abtastungen des Inneren der Steuerkabine der Wahren Liebe.«
Ich tat natürlich, was er mir aufgetragen hatte. Dennoch wälzte ich in meinen schwachen Femtosekunden dieselbe Frage. Endlich fand ich eine Antwort. Wo war ich eigentlich?
Ich war im Himmel.
Denken Sie doch nach! Den gängigen Beschreibungen nach stimmte das meiste hier. Mein Bauch tat nicht mehr weh – ich hatte keinen Bauch mehr. Ich stand nicht mehr unter dem Joch der Sterblichkeit. Ich war einen Tod schuldig gewesen, den hatte ich bezahlt, und war nun auf ewig frei. Es war zwar nicht ganz die Ewigkeit, die auf mich wartete, aber ein ganz ähnlicher Zustand. Die Datenlagerung der Hitschi hatte, das wussten wir, wenigstens eine halbe Million Jahre Bestand, ohne nennenswerten Abbau – die ursprünglichen Hitschi-Fächer funktionierten nämlich noch –, und das ist eine ganze Menge Femtosekunden! Ich hatte auch keine irdischen Sorgen mehr; eigentlich überhaupt keine Sorgen, außer denen, die ich mir freiwillig auflud.
Ja. Himmel.
Wahrscheinlich glauben Sie mir nicht, weil Sie nicht akzeptieren, dass eine Existenz als körperloser Wirrwarr von Datenbits, gelagert in einem Fächer, wirklich etwas »Himmlisches« sein kann. Ich verstehe das, weil ich selbst Schwierigkeiten hatte, es zu akzeptieren. Aber die »Wirklichkeit« ist … »wirklich« eine subjektive Angelegenheit. Wir Geschöpfe aus Fleisch und Blut erfahren die Wirklichkeit »wirklich« nur aus zweiter oder dritter Hand, als eine Analogie, die unser Sinnensystem auf die Synapsen unseres Gehirns malt. Das hatte Albert immer gesagt. Es stimmte – zumindest beinahe –, nein, es war mehr als richtig in vielen Punkten, weil ein körperloses Durcheinander wie ich über eine größere Auswahl an Wirklichkeiten verfügt als Sie.
Aber wenn Sie mir immer noch nicht glauben, kann ich mich nicht beschweren. Wie oft ich es mir auch einredete, eigentlich fand ich es nicht himmlisch. Ich hatte mir noch nie Gedanken gemacht, wie schrecklich unbequem es war – finanziell, rechtlich und in vieler anderer Hinsicht, nicht zuletzt in Bezug auf die Ehe –, tot zu sein.
Damit komme ich zurück zur Frage, wo ich mich wirklich befand? In Wirklichkeit war ich zu Hause. Sobald ich – nun ja, gestorben war, hatte Albert reumütig das Schiff gewendet. Die Rückfahrt dauerte ziemlich lange. Aber ich hatte ja nichts Besonderes zu tun. Ich musste nur lernen, mich so zu verhalten, als ob ich am Leben sei, ohne es zu sein. Ich brauchte die gesamte Rückfahrt allein für die Anfangsbegriffe. Es war nämlich sehr viel schwieriger, in einen Datenfächer hineingeboren zu werden als auf die alte biologische Weise in die Welt – ich musste aktiv arbeiten, verstehen Sie? Alles um mich herum war sehr viel weiter. Einerseits war ich beschränkt auf das Hitschi-Modell eines Datenfächers mit einem Kubikinhalt von nicht viel mehr als tausend Kubikzentimetern und wurde auch so aus der Steckdose gezogen und durch den Zoll gebracht, zurück in unser altes Haus am Tappan-See. Das war nicht schwieriger, als ein zweites Paar Schuhe im Gepäck zu haben. Andererseits war ich weiter als die Galaxien, da mir alle gesammelten Datenfächer der Welt zugänglich waren, um damit zu spielen. Schneller als eine Silberkugel, so quirlig wie Quecksilber, so geschwind wie der Blitz, konnte ich überall hingehen, wohin die gelagerten Hitschi – und menschlichen Datenspeicher – je gegangen waren, und das war jeder Ort, von dem ich je gehört hatte.
Menschliche Angelegenheiten waren schwieriger …
Als wir endlich wieder am Tappan-See waren, hatte Essie Gelegenheit gehabt, sich auszuruhen, und ich die Zeit und die Übung zu erkennen, was ich sah. Beide waren wir über das Trauma meines Todes etwas hinweggekommen. Ich behaupte nicht, dass wir es ganz überwunden hatten, aber wir konnten zumindest miteinander reden.
Zuerst unterhielten wir uns nur, weil ich Hemmungen hatte, mich meiner lieben Frau als Hologramm zu präsentieren. Dann sagte Essie befehlend: »Also Robin! Es ist nicht mehr auszuhalten, nur mit dir zu reden. Komm her, wo ich dich sehen kann!«
»Ja, tu das!«, befahl mir die andere Essie, die mit mir gespeichert war, und Albert stimmte mit ein:
»Entspann dich einfach und lass es geschehen, Robin! Die Unterprogramme sind alle an der richtigen Stelle.« Trotz alledem erforderte es meinen ganzen Mut, mich zu zeigen. Als ich es endlich fertig brachte, betrachtete mich meine liebe Frau von Kopf bis Fuß und stellte dann fest:
»Ach, Robin. Du siehst ja furchtbar aus!«
Das klingt vielleicht etwas lieblos; aber ich wusste, wie Essie es meinte. Sie wollte nicht kritisieren. Sie hatte Mitleid und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Später mache ich es besser, Liebling«, versprach ich ihr und wünschte, dass ich sie berühren könnte.
»Das wird er bestimmt, Mrs. Broadhead«, versicherte Albert ernsthaft, wodurch ich erst merkte, dass er neben mir saß. »Im Augenblick helfe ich ihm noch, und es ist schwierig, zwei Bilder gleichzeitig zu projizieren. Ich fürchte, beide kommen nicht gut heraus.«
»Dann verschwinde du doch!«, schlug sie vor. Aber er schüttelte den Kopf.
»Robin muss unbedingt üben – und Sie möchten vielleicht einige Zusätze bei der Programmierung vornehmen, glaube ich. Zum Beispieclass="underline" Umgebung. Ich kann Robin keinen Hintergrund geben, wenn ich ihn nicht mit ihm teile. Es sind außerdem Verbesserungen nötig bei der vollen Animation, bei der Reaktion in Echtzeit, bei der Konsistenz zwischen den einzelnen Aufnahmen …«
»Ja, ja!«, stöhnte Essie und machte sich in ihrem Arbeitszimmer ans Werk.
Das taten wir anderen auch. Es gab viel zu tun, vor allem für mich.
Ich habe mir über viele Dinge in meiner Zeit Sorgen gemacht, und meistens über die falschen. Den Großteil meines physischen Lebens überschattete die Sorge wegen des Sterbens meine Gedanken – so wie auch in Ihrem Leben. Ich hatte Angst vor der Auslöschung. Mir wurde aber keine Auslöschung zuteil. Ich bekam einen völlig neuen Problemkreis.