»Aber nicht durch Zufall«, bemerkte Klara ernst.
»Was? Ich verstehe nicht.«
»Das sind Raketen«, erklärte sie, »Sie tragen Atomsprengköpfe. Da ist die Antwort. Sie warten nicht, bis Sie angreifen. Sie schießen zuerst.«
»Schießen?«, wiederholte er verständnislos. »Um uns zu verletzen? Möglicherweise zu töten?«
»Ganz genau«, triumphierte Klara. »Was haben Sie erwartet? Wenn Sie Krieg wollen, können Sie ihn haben.«
Der Kapitän schloss die Augen und hörte kaum das entsetzte Zischen und Surren seiner Mannschaft, als White-Noise übersetzte. »Krieg«, murmelte er ungläubig und dachte zum ersten Mal nicht mit Angst, sondern beinahe sehnsüchtig daran, sich zu den Geballten Gehirnen zu begeben. Wie schlimm es auch sein mochte, schlimmer als dies konnte es doch nicht sein, oder?
Und unterdessen …
Unterdessen hatte sich die Sache fast zu weit entwickelt – aber, zum Glück für alle, nicht ganz. Die Rakete des brasilianischen Aufklärers war viel zu langsam, um die Hitschi zu treffen, als diese auswichen. Bevor der Aufklärer in Position gegangen war, um erneut zu feuern, war es dem Kapitän gelungen, Klara seine Absichten zu erklären, und Klara stand wieder am Funkgerät und verbreitete seine Worte: Keine Invasionsflotte. Nicht einmal ein Überfallkommando. Eine Rettungsmission – und eine Warnung vor dem, wovor die Hitschi weggelaufen und sich versteckt hatten und worüber wir uns jetzt die Köpfe zu zerbrechen hatten.
Erweitert, wie ich jetzt bin, kann ich über die lächerlichen alten Ängste und Ansichten nur lächeln. Damals vielleicht nicht. Aber jetzt, ja. Alle Skalen sind viel größer und viel aufregender. Es gibt allein außerhalb des Kerns zehntausend tote gelagerte Hitschi, und ich kann sie alle lesen. Habe sie auch beinahe alle gelesen. Ich lese darin weiter, wenn ich Lust habe, wenn es etwas gibt, mit dem ich mich näher befassen möchte. Bücher in den Regalen einer Bibliothek?
Sie sind mehr als das. Eigentlich »lese« ich sie auch nicht richtig. Es ist eher, als ob ich mich mit ihnen erinnere. Wenn ich eines »aufmache«, mache ich es ganz auf. Ich lese es von innen heraus, als wäre es ein Teil von mir. Es war nicht leicht, das zu lernen, wie überhaupt nichts leicht war, das ich lernen musste, seit ich erweitert wurde. Jedoch mit Alberts Hilfe und einfachen Übungstexten habe ich es gelernt.
Nachdem wir das Missverständnis mit dem Kapitän aufgeklärt hatten und ich Zugang zu eigenen Aufzeichnungen der Hitschi hatte, wurde die Sache haarig. Da war die verstorbene Liebe des Kapitäns, die Hitschi-Frau Twice. Zu ihr »Zugang« zu finden war, als ob man im Dunkeln aufwacht und einen kompletten Anzug anziehen muss, ohne ein Stück zu sehen – wobei sowieso nichts passte. Es lag nicht nur daran, dass sie eine Frau war, obwohl das schon eine riesige Unvereinbarkeit darstellte. Es lag auch nicht daran, dass sie eine Hitschi und ich ein Mensch war. Es lag an ihrem Wissen, an dem, was sie schon immer gewusst hatte, das weder ich noch irgendein anderer Mensch auch nur vermutet hatten. Vielleicht war es das, was Albert geahnt – und ihn hatte durchdrehen lassen. Aber selbst Alberts Mutmaßungen hatten ihm keine Bande von Assassinen gezeigt, die sich nach ihren Fahrten zu den Sternen in einem Kugelblitz verkrochen, um auf die Geburt eines neuen – und für sie besseren – Universums zu warten.
Aber nachdem der erste Schock vorüber war, habe ich mich mit Twice angefreundet. Sie ist wirklich ein netter Kerl, wenn man sich erst einmal überwunden hat, über ihre kleinen Absonderlichkeiten hinwegzusehen: Außerdem hatten wir viele gemeinsame Interessen. Die Hitschi-Bibliothek gelagerter Intelligenzen ist nicht nur Hitschi oder menschlich. Es gibt da auch dumpfe, alte, quengelige Stimmen, die geflügelten Wesen von einem Antares-Planeten gehört haben, und knallartige Geräusche aus einem Kugelhaufen. Und natürlich gibt es die Schlammbewohner. Twice und ich verbrachten viel Zeit damit, sie und ihre Eddas zu studieren. Mit meinen Femtosekunden-Synapsen habe ich ja jede Menge Zeit.
Ich habe beinahe genug Zeit, den Kern selbst zu besuchen. Vielleicht tue ich das eines Tages, aber noch nicht so bald. Unterdessen und mittlerweile sind Audee und Yee-xing auf dem Weg dorthin. Sie helfen als Piloten bei einer Expedition aus, die dort sechs oder sieben Monate bleiben wird – oder nach unserer Zeitrechnung hier draußen, einige Jahrhunderte. Wenn sie dann zurückkommen, dürfte Dollys Anwesenheit kein Problem mehr darstellen. Dolly ist mit ihrer Karriere im PV sehr glücklich. Essie ist so zartfühlend, nicht zu glücklich zu sein, weil ihr meine beglückende körperliche Gegenwart fehlt; aber sie scheint sich mit allem recht gut abgefunden zu haben. Am meisten (von mir abgesehen) liebt sie ihre Arbeit, und davon hat sie jede Menge – beim Verbessern ihrer Jetzt-und-Später-Unternehmen. Sie verwendet die gleichen Verfahren wie beim Herstellen der CHON-Nahrung, um wichtige organische Teile herzustellen … dann wird es ihr, das hofft sie, bald gelingen, mit Ersatzteilen herauszukommen für Leute, die sie brauchen, damit niemand mehr die Organe eines anderen Menschen stehlen muss. Wenn man es recht betrachtet, sind eigentlich die meisten Leute glücklich, nachdem wir uns die Hitschi-Flotte ausgeliehen haben und damit eine Million Menschen pro Monat mit all ihrer Habe auf einen der fünfzig Planeten bringen können, die nur darauf warten, genutzt zu werden.
Ich ganz besonders.
Und da gab es noch Klara.
Wir haben uns natürlich doch getroffen. Ich hätte auch darauf bestanden. Überhaupt hätte man sie nicht für alle Zeit von mir fern halten können. Essie nahm eine Landeschlaufe und holte sie in der Umlaufbahn ab. Persönlich brachte sie Klara an Bord unseres Flugzeugs und an den Tappan-See. Ich bin sicher, dass es einige Probleme der Etikette zu überwinden gab. Aber andernfalls wäre Klara von den Medien überrannt worden, die unbedingt ganz genau wissen wollten, wie es war, »Gefangene der Hitschi« zu sein, oder »Gekidnappt vom Wolfsjungen Wan« oder wie die Schlagzeilen sonst gelautet hätten … Eigentlich glaube ich, dass sie und Essie sich recht gut verstanden. Sie mussten sich ja auch nicht meinetwegen streiten. Ich existierte ja nicht mehr als etwas, worüber man sich streiten konnte.
Ich übte mein schönstes holographisches Lächeln und entwarf meine wirkungsvollste holographische Umgebung. Darin erwartete ich Klara. Sie kam allein in das große Atrium, wo ich sie empfangen wollte – Essie muss so taktvoll gewesen sein, ihr den Weg zu zeigen, um sich dann zurückzuziehen. Als Klara durch die Tür trat, konnte ich an der Art, wie sie stehen blieb und den Mund aufriss, sehen, dass sie erwartet hatte, mich sehr viel »toter« zu sehen.
»Hallo, Klara«, begrüßte ich sie. Das war keine brillante Rede, aber was soll man unter solchen Umständen schon groß sagen? Sie antwortete:
»Hallo, Robin.« Auch ihr schien nichts einzufallen, das sie hinzufügen konnte. Sie stand da und schaute mich an, bis ich sie bat, Platz zu nehmen. Ich begutachtete sie natürlich auch genau mit allen multiphasischen Möglichkeiten, über die wir elektronisch gelagerten Intelligenzen verfügen. Wie auch immer betrachtet, sie sah verdammt gut aus. Ich schätze, das Anstarren machte sie nervös. Sie räusperte sich und sagte: »Wenn ich es recht verstehe, willst du mich reich machen.«
»Nein, Klara. Ich will dir nur deinen Anteil von dem geben, was wir zusammen verdient haben.«
»Scheint sich ziemlich vermehrt zu haben.« Sie lächelte. »Deine, hm … deine Frau meint, ich kann fünfzig Millionen in bar haben.«
»Du kannst noch mehr bekommen.«