Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute: die wir doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob die Geburt eines» künstlerischen Sokrates«überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei.
Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte:»Sokrates, treibe Musik!«Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene» gemeine, populäre Musik «erinnern werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen — durch sein Nichtsverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht — so musste er sich fragen — ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?
Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur Neuschaffung der Kunst — und zwar der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne — immer wieder nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt.
Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates, überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht, weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor das sich erkühnte, alles Nichteinheimische für alle Zeiten als» barbarisch «zu bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die, obschon sie nur einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter der Masse zukommt? Leider war man nicht so glücklich den Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfach abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und fürchtet man sich vor den Griechen; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass aber fase immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten, ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen.
Um die Würde einer solchen Führerstellung auch für Sokrates zu erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen, über dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nächste Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt. Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu finden oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welchees eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist.
Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin: so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern — was bei weitem mehr ist — auch sterben konnte: und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soeben bezeichnete.
Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschiinseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte — der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchs erschienen ist.
Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, wurden von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Form der» griechischen Heiterkeit «und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.