Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre, hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I, S. 295):»Es ist das Subject des Willens, d.h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur auf Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen zwischen beiden gesucht und imaginirt; die subjective Stimmung, die Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der Abdruck».
Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren Wesen darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben — denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: — während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.
In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschung entdeckt, dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, in der allgemeinen Schätzung der Griechen zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegensatz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik verewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben.
Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem; nichts Anderes will uns die Strophenform des Volksliedes sagen: welches Phänomen ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Buntheit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan.
In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen Flötenweisen des Olympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale und einen Satz als» Scene am Bach«, einen anderen als» lustiges Zusammensein der Landleute «bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegenstände der Musik — Vorstellungen, die über den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nachahmung der Musik aufgeregt wird.
Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so können wir jetzt fragen:»als was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?«Sie erscheint als Wille, das Wort im Schopenhauerischen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre — denn der Wille ist das an sich Unaesthetische — ; aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyrikers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er selbst, völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.