Mein Vater lächelte. Ich nahm den Helm ab und war sehr stolz, als ich die Zustimmung des Rates vernahm, die goreanische Abart des Beifalls, die darin bestand, daß die rechte Hand in schneller Folge auf die linke Schulter geschlagen wird. Abgesehen von den Kandidaten, die in die Kaste der Krieger aufgenommen werden sollten, durfte niemand den Ratssaal bewaffnet betreten. Wären sie bewaffnet gewesen, hätten meine Kastenbrüder auf der letzten Bank ihren Beifall mit Speer und Schild kundgetan; so begnügten sie sich mit der allgemein üblichen Beifallsbezeigung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie stolz waren auf mich, obwohl ich mir den Grund dafür nicht vorstellen konnte.
Jedenfalls hatte ich noch nichts geleistet, was ihr Interesse rechtfertigte. Im Gefolge des Älteren Tarls verließ ich den Ratssaal und beitrat einen kleinen Nebenraum, um dort auf meinen Vater zu warten. Der Raum enthielt einen Tisch, auf dem einige Landkarten lagen. Der Altere Tarl beugte sich sofort darüber. Er rief mich an seine Seite, begann sich eingehend damit zu beschäftigen und zeigte mir diese und jene Stelle. »Und hier«, sagte er schließlich und setzte seinen Finger auf das Blatt, »liegt die Stadt Ar, der Erzfeind Ko-ro-bas, die Hauptstadt Marlenus, der Ubar von ganz Gor werden will.« »Hat das etwas mit mir zu tun?« fragte ich. »Ja«, sagte der Ältere Tarl. »Du wirst nach Ar reisen. Du sollst den Heimstein Ars stehlen und ihn nach Ko-ro-ba bringen.«
5
Ich bestieg meinen Tarn, jenen wilden, herrlichen Vogel. Schild und Speer waren an den Sattel geschnallt; das Schwert trug ich über der Schulter. An der rechten Seite des Sattels hing eine Armbrust mit einem Köcher voller Geschosse, und auf der linken Seite ein Bogen mit einem zweiten Köcher. Die Satteltaschen enthielten die leichte Ausrüstung, die ein Tarnsmann gewöhnlich bei sich trägt – insbesondere Rationen, Kompaß, Landkarten, Schnur und Ersatzsehnen für den Bogen. Im Sattel vor mir saß ein Mädchen. Sie war gefesselt und trug eine Sklavenhaube über dem Kopf; es war Sana, die Turmsklavin, die ich an meinem ersten Tag auf Gor gesehen hatte.
Ich winkte dem Älteren Tarl und meinem Vater zum Abschied zu, zog den ersten Zügel und war im nächsten Augenblick in der Luft. Der Turm und die winzigen Gestalten darauf blieben unter mir zurück. Ich ließ den vierten Zügel los und zog die sechste Leine, wodurch ich den Kurs nach Ar bestimmte. Als ich den Zylinder passierte, in dem Torm seine Schriftrollen aufbewahrte, glaubte ich den kleinen Schriftgelehrten an seinem erweiterten Fenster stehen zu sehen. Er hob winkend den blauen Arm. Er machte einen ziemlich traurigen Eindruck. Ich erwiderte seinen Gruß und kehrte Ko-ro-ba den Rücken. Von der Erregung, die ich bei meinem ersten Flug verspürt hatte, war wenig übriggeblieben.
Ich war besorgt und ärgerlich über die unschönen Einzelheiten der Mission, die vor mir lag. Ich dachte an das unschuldige Mädchen, das besinnungslos vor mir saß.
Wie überrascht ich gewesen war, als sie in dem kleinen Nebenraum des Ratssaales erschien! Sie war vor meinem Vater niedergekniet, der mir den Plan des Rates erläuterte.
Die Macht Marlenus – oder jedenfalls ein Großteil seiner Macht – lag in dem Siegesmythos begründet, der ihn wie einen Zaubermantel umgab und der die Soldaten und Bewohner seiner Stadt magisch anzuziehen schien. Im Kampfe noch nie besiegt, hatte er als Ubar aller Ubars die Rückgabe seines Titels kühn verweigert. Das war vor etwa zwölf Jahren gewesen, nach Beendigung eines kleineren Talkrieges. Seine Männer hatten ihm weiter Gehorsam geschworen, hatten ihn dem normalen Schicksal eines zu ehrgeizigen Ubars nicht ausgeliefert. Die Soldaten und der Rat seiner Stadt hatten seinen Drohungen und Versprechungen nachgegeben; er wollte Ar Macht und Reichtum bringen. Es schien fast, als hätten sie ihr Vertrauen auf den richtigen Mann gesetzt. Heute war Ar keine einzelne belagerte Stadt, deren es in Gor viele gab, sondern sie war eine Metropole, in der die Heimsteine zahlreicher bisher freier Städte aufbewahrt wurden. Es existierte ein Imperium von Ar, eine widerstandsfähige, arrogante, kriegsgeübte Macht, die nur zu offensichtlich bestrebt war, ihre Feinde aufzureiben und ihre politische Hegemonie immer weiter über die Ebenen, Berge und Wüsten Gors auszudehnen.
Es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch Ko-ro-ba seine relativ kleine Streitmacht an Tarnkämpfern gegen das Imperium Ar schicken mußte. Mein Vater hatte in seinem Amt als Administrator Ko-ro-bas eine Allianz gegen Ar schmieden wollen, doch die Freien Städte hatten sich diesem voller Stolz und Mißtrauen widersetzt; sie fürchteten um den Bestand ihres eigenen Einflußgebietes. Sie hatten die Abgesandten meines Vaters sogar mit Sklavenpeitschen aus ihren Ratssälen getrieben – eine Beleidigung, die normalerweise zum Krieg geführt hätte. Aber mein Vater wußte, daß ein Streit zwischen den Freien Städten genau das war, was Marlenus jetzt brauchte; da war es schon besser, wenn Ko-ro-ba als Stadt voller Feiglinge angesehen wurde. Doch wenn nun der Heimstein Ars, das Symbol und das Kernstück des Imperiums, gestohlen wurde, mochte der Zauberbann Marlenus gebrochen werden. Er würde zum Gespött aller Leute werden, seinen eigenen Leuten verdächtig, ein Führer, der seinen Heimstein verloren hatte. Er konnte von Glück sagen, wenn er nicht öffentlich aufgespießt wurde.
Das Mädchen im Sattel vor mir rührte sich; die Wirkung der Droge ließ nach. Sie stöhnte leise und lehnte sich zurück. Schon beim Start hatte ich ihre Hand- und Fußfesseln gelöst und nur den breiten Gurt unberührt gelassen, der sie auf dem Rücken des Tarn festhielt. Ich gedachte den Plan des Rates nicht bis in die letzten Einzelheiten auszuführen -jedenfalls nicht, soweit er dieses Mädchen betraf, obwohl sie ihre Rolle übernommen hatte und wußte, daß sie nicht mit dem Leben davonkommen konnte. Ich kannte kaum mehr als ihren Namen – Sana -und die Tatsache, daß sie eine Sklavin aus der Stadt Thentis war. Der Ältere Tarl hatte mir erzählt, daß Thentis für seine Tarnschwärme bekannt war und daß sich der Name von den Thentis -Bergen herleitete, in denen sie liegt. Krieger aus Ar hatten eines Tages die Tarnschwärme und die äußeren Türme von Thentis überfallen und dabei das Mädchen gefangengenommen. Sie war am Tage des Liebesfestes in Ar verkauft worden und war an einen Agenten meines Vaters gefallen. Dieser Mann hatte den Auftrag, gemäß dem Plan des Rates ein Mädchen zu erstehen, das für die Rache an Ar ihr Leben geben würde. Ich hatte Mitleid mit ihr. Sie hatte viel durchgemacht und war zweifellos nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Mädchen in der Taverne; ihr wäre ein Leben in Sklaverei bestimmt nicht leichtgefallen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß sie trotz ihres Sklavenkragens ein freier Mensch war – schon seit dem Augenblick, da mein Vater ihr befohlen hatte, sich mir zu unterwerfen und mich als ihren neuen Herrn zu akzeptieren. Sie war aufgestanden, war auf nackten Füßen quer durch den Raum auf mich zugekommen und war vor mir niedergekniet, wobei sie den Kopf senkte und mir mit gekreuzten Unterarmen die Hände reichte. Die rituelle Bedeutung dieser Geste entging mir nicht; sie bot mir ihre Handgelenke dar, als sollte ich sie fesseln. Ihre Rolle in dem Plan war einfach, aber tödlich.
Der Heimstein Ars wurde wie in den meisten Zylinderstädten auf dem höchsten Turm der Stadt aufbewahrt, frei auf dem Dach liegend, wie zur Herausforderung für die Tarnkrieger rivalisierender Städte. Natürlich wurde das Heiligtum gut bewacht und beim ersten Anzeichen von Gefahr sofort in Sicherheit gebracht. Jeder Angriff auf den Heimstein galt bei den Bürgern einer Stadt als schreckliches Sakrileg und wurde unweigerlich mit dem Tode bestraft; paradoxerweise war es die größte Ruhmestat überhaupt, mit dem Heimstein einer anderen Stadt nach Hause zu kommen, und einem Krieger, dem dieses gelang, wurden die höchsten Ehrungen zuteil, und er wurde als ein Mann angesehen, dem die Priesterkönige wohlgesinnt waren.
Der Heimstein einer Stadt ist Mittelpunkt verschiedener Rituale. Das nächste war das Pflanzfest des Korns Sa-Tarna, der Lebenstochter, das jedes Frühjahr gefeiert wurde, um eine gute Ernte zu gewährleisten. Es ist ein kompliziertes Fest, das in den meisten goreanischen Städten bekannt ist, und zerfällt in zahlreiche diffizile Rituale. Sie werden meistens von den Wissenden einer Stadt arrangiert und ausgeführt. Gewisse Momente der Zeremonie sind jedoch oft Mitgliedern der anderen Hohen Kasten vorbehalten.