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In Ar geht zum Beispiel früh am Morgen ein Mitglied der Hausbauer auf das Dach, auf dem der Heimstein aufbewahrt wird, und setzt ein primitives Symbol seines Berufs, ein metallenes Rechteck, vor dem Stein ab und betet zu den Priesterkönigen um das Wohlergehen seiner Kaste im kommenden Jahr; später legt ein Krieger seine Waffen vor dem Stein nieder, gefolgt von Vertretern der anderen Kasten. Wichtig dabei ist, daß sich die Wächter des Heimsteins in das Innere des Zylinders zurückziehen, während diese Vertreter der Hohen Kasten ihre Rituale verrichten. Der jeweilige Bittsteller soll mit den Priesterkönigen allein sein, so wird gesagt.

Als Höhepunkt des Pflanzfestes in Ar – sehr wichtig für den Plan des Rates von Ko-ro-ba – betritt ein Mitglied der Familie des Ubars das Dach bei Nacht, unter den drei vollen Monden, mit denen das Fest zu tun hat. Es wirft Korn auf den Stein und sprengt einige Tropfen eines roten weinähnlichen Getränks darüber, das aus der Frucht des Ka-la-na-Baums gewonnen wird. Das Mitglied der Ubar-Familie betet dann zu den Priestergöttern und erbittet eine reiche Ernte. Dann kehrt es in das Innere des Zylinders zurück, woraufhin die Wächter des Heimsteins ihren Dienst wieder aufnehmen.

In diesem Jahr fiel die Ehre des Kornopfers der Tochter des Ubar zu. Ich wußte nichts über sie – nur daß sie Talena hieß und als eine der Schönheiten von Ar galt und daß ich sie töten sollte.

Nach dem Plan des Rates von Ko-ro-ba sollte ich im Augenblick des Opfers, um die zwanzigste goreanische Stunde – die unserer Mitternacht entspricht – auf dem Dach des höchsten Zylinders in Ar landen, die Tochter des Ubar umbringen und ihren Körper und den Heimstein davontragen. Das Mädchen hätte ich im Sumpfland nördlich von Ar abzuwerfen und den Stein nach Ko-ro-ba zu bringen. Das Mädchen Sana, das im Sattel vor mir saß, müßte die schweren Roben und Schleier der Toten anlegen und an ihrer Stelle in das Innere des Zylinders zurückkehren. Es würde vermutlich einige Minuten dauern, bis ihre Identität entdeckt war, und dann sollte sie das Gift nehmen, das ihr der Rat zur Verfügung gestellt hatte.

Zwei Mädchen sollten in dieser Nacht sterben, nur damit ich mit dem Heimstein entfliehen konnte, ehe es Alarm gab. Ich wußte, daß ich diesen Plan nicht ausführen würde. Abrupt änderte ich den Kurs und lenkte meinen Tarn auf die blaue, schimmernde Bergkette zu. Das Mädchen vor mir stöhnte und schüttelte sich, und ihre Hände fuhren unsicher an die Sklavenhaube, die ihren Kopf bedeckte.

Ich half ihr beim Lösen der Haube und war entzückt, als ihr langes blondes Haar im Winde flatternd an meiner Wange entlangstrich. Ich steckte die Haube in die Satteltasche und betrachtete sie bewundernd – nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihrer offensichtlichen Furchtlosigkeit. Jedes normale Mädchen hätte Grund zur Angst gehabt – die Höhe, in der sie sich befand, das wilde Tier, auf dem sie ritt, die Aussicht auf ein schreckliches Schicksal, das sie am Ende dieses Fluges erwartete. Aber sie war ein Mädchen aus dem gebirgigen Thentis; dort ängstigten sich die Mädchen nicht so schnell.

Sie sah sich nicht um, sondern betrachtete ihre Handgelenke und rieb sie vorsichtig.

»Du hast mich losgebunden«, sagte sie. »Und du hast mir die Haube abgenommen – warum?«

»Ich dachte, es wäre bequemer für dich«, erwiderte ich.

»Du behandelst eine Sklavin mit ungewöhnlicher Rücksicht«, sagte sie.

»Danke.«

»Du hast keine... Angst?« fragte ich. »Ich meine – wegen des Tarn? Du bist doch sicher schon auf einem Tarn geritten. Ich hatte beim erstenmal große Angst.«

Das Mädchen wandte verblüfft den Kopf. »Frauen dürfen selten auf dem Rücken von Tarns reiten«, sagte sie. »Im Tragkorb schon, aber nicht wie ein Krieger.« Sie hielt inne. »Du hast gesagt, du hättest Angst gehabt«, sagte sie.

»Das stimmt auch«, lachte ich und erinnerte mich an die Aufregung und an das seltsame Kribbeln der Gefahr.

»Warum sagst du einer Sklavin, daß du Angst hattest?« fragte sie.

»Weiß ich nicht«, erwiderte ich. »Jedenfalls hatte ich Angst.«

Sie blickte wieder nach vorn. »Ich bin schon einmal auf dem Rücken eines Tarn geritten«, sagte sie bitter. »Im Sattel gefesselt, auf dem Wege nach Ko-ro-ba, wo ich verkauft wurde.«

Sie betrachtete den Horizont und erstarrte plötzlich. »Das ist nicht der Kurs nach Ar«, rief sie aus.

»Ich weiß«, sagte ich.

»Was tust du?« Sie wandte sich zu mir um und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. »Wohin fliegst du, Herr?«

Das Wort ›Herr‹ verwirrte mich, auch wenn es zu Recht von einem Mädchen benutzt wurde, das tatsächlich mein Eigentum war.

»Nenn mich nicht »Herr«, sagte ich.

»Aber du bist mein Herr«, sagte sie.

Ich zog den Schlüssel zu Sanas Kragen aus meiner Tunika. Ich öffnete das Schloß des Stahlbandes, zerrte das Gebilde von ihrem Hals und warf es in die Tiefe.

»Du bist frei«, sagte ich. »Wir fliegen nach Thentis.«

Sie saß erstarrt vor mir, und ihre Hände betasteten ungläubig den nackten Hals. »Warum?« fragte sie. »Warum?«

Was konnte ich ihr sagen? Daß ich aus einer anderen Welt kam, daß ich entschlossen war, nicht alles anzuerkennen, was in Gor selbstverständlich war, daß sie mir in ihrer Hilflosigkeit nicht gleichgültig gewesen war, daß ich sie einfach nicht als Instrument des Rates sehen konnte, sondern nur als Mädchen, jung, voller Leben, ein Mädchen, das nicht in einem politischen Spiel geopfert werden durfte ...?

»Ich habe meine Gründe«, sagte ich, »aber ich bin nicht sicher, daß du sie verstehen würdest.«

»Mein Vater und meine Brüder werden dich belohnen.«

»Nein«, sagte ich.

»Wenn du wünschst, müssen sie mich dir überlassen, ohne Brautgeld.«

»Der Ritt nach Thentis ist lang«, sagte ich. Sie erwiderte stolz: »Mein Brautpreis wären hundert Tarns.« Ich pfiff leise vor mich hin – meine ehemalige Sklavin hätte einen hohen Preis erbracht. Mit dem Gehalt eines Kriegers hätte ich sie mir nicht leisten können.

»Wenn du landen willst«, sagte Sana, die mich offensichtlich auf irgendeine Weise entschädigen wollte, »bin ich dir gern gefällig.«

»Möchtest du den Wert des Geschenkes herabsetzen, das ich dir mache?« fragte ich.

Sie überlegte einen Augenblick und küßte mich dann sanft auf die Lippen. »Nein, Tarl Cabot von Ko-ro-ba«, sagte sie, »aber du weißt, dass du mir am Herzen liegst.«

Ich machte mir klar, daß sie mich als freie Frau angesprochen hatte, indem sie meinen Namen benutzte. Ich legte die Arme um sie und versuchte sie vor dem kühlen Hauch des Windes zu schützen.

Auf einem Turm in Thentis ließ ich sie zurück, küßte sie noch einmal und entfernte ihre Arme von meinem Hals. Sie weinte. Ich zog den Tarn in die Luft und winkte der kleinen Gestalt zu, die noch immer den gestreiften Umhang einer Sklavin trug. Sie hatte den weißen Arm gehoben, und ihr blondes Haar wehte hinter ihr im Wind, der über das nackte Dach fegte. Ich schlug die Richtung nach Ar ein.

Als ich den Vosk, jenen mächtigen, vierzig Pasang breiten Fluß überquerte, der die Grenze Ars bildet und sich in den Tambergolf ergießt, machte ich mir klar, daß ich nun endlich das Imperium Ars erreicht hatte. Sana hatte mir die Giftkapsel aufdrängen wollen, die ihr der Rat zum eigenen Gebrauch überlassen hatte. Doch ich hatte die Tablette fortgeworfen. Sie war eine Versuchung, der ich nicht erliegen wollte. Wenn der Tod so leicht fiel, lag mir vielleicht nicht mehr so viel am Leben. Es mochte der Augenblick kommen, da ich diese Entscheidung bedauerte.

Es dauerte drei Tage, ehe ich die Stadt Ar erreichte. Kurz nachdem ich den Vosk überquert hatte, war ich niedergegangen und hatte mein Lager aufgeschlagen. Von nun an reiste ich nur noch bei Nacht. Während des Tages ließ ich meinen Tarn frei, der sich nach Belieben ernähren konnte.