Während des ersten Tages ruhte ich im Schatten eines kleinen Baumhains, von denen es hier im Grenzland Ars viele gab, schlief, aß von meinen Rationen und übte mit meinen Waffen und versuchte meine Muskeln geschmeidig zu halten – trotz der Anstrengung der langen Tarnritte. Aber ich langweilte mich. Zuerst war sogar die Landschaft deprimierend, denn die Bewohner Ars hatten zur Kennzeichnung ihrer Grenze ein Gebiet von etwa dreihundert Pasang verwüstet; sie hatten Fruchtbäume gefällt, Brunnen zugeschüttet und die fruchtbaren Gebiete versalzen. Aus praktischen Erwägungen hatte sich Ar mit einer unsichtbaren Mauer umgeben, einem trockengebleichten Gürtel, der für Fußvolk fast unpassierbar war.
Am zweiten Tag hatte ich mehr Glück; ich schlug mein Lager in einer grasbestandenen Ebene auf, die hier und dort mit Ka -la -na-Bäumen bestanden war. In der Nacht war ich über Kornfelder dahingeflogen, die silbriggelb im Licht der drei Monde schimmerten. Ich richtete mich während meines Fluges nach der schimmernden Nadel des Gor-Kompasses, die stets auf das Sardargebirge gerichtet war, die Festung der Priesterkönige. Manchmal lenkte ich meinen Tarn auch nach den Sternen – die gleichen Fixsterne, die ich schon aus anderem Winkel von den Bergen in New Hampshire aus gesehen hatte. Am dritten Tag lagerte ich in dem Sumpfwald, der die Stadt Ar im Norden begrenzt. Ich hatte mir diese Gegend ausgesucht, weil sie in unmittelbarer Nähe Ars am wenigstens bewohnt ist. In der letzten Nacht hatte ich zu viele Dorffeuer gesehen, und zweimal waren die Tarnpfeifen naher Patrouillen zu hören gewesen, die jeweils aus drei Kriegern bestanden. Ich dachte daran, das Projekt überhaupt aufzugeben, mich als Deserteur aus der Gesellschaft selbst auszustoßen. Ich wollte diesem wahnsinnigen Plan entfliehen.
Aber eine Stunde vor Mitternacht des Tages, an dem das Pflanzfest der Sa-Tarna gefeiert wurde, stieg ich wieder in den Sattel meines Tarn, zog den ersten Zügel und stieg über die dichtbelaubten Bäume des Sumpfwaldes auf. Im gleichen Augenblick hörte ich den heiseren Schrei eines Patrouillenführers: »Da ist er! Wir haben ihn!« Sie hatten meinen Tarn bei seinem Nahrungsflug verfolgt. Drei Krieger aus Ar näherten sich nun aus verschiedenen Richtungen. Sie hatten offensichtlich nicht die Absicht, mich gefangen-
zunehmen, denn eine Sekunde nach dem Schrei zischte ein Armbrustbolzen über meinen Kopf dahin. Ehe ich mich sammeln konnte, materialisierte sich ein dunkler geflügelter Schatten vor mir, und im Licht der drei Monde erblickte ich einen Krieger auf einem Tarn, der mit einem Speer nach mir hieb.
Er hätte sein Ziel sicher gefunden, wenn mein Tarn in diesem Augenblick nicht heftig nach links ausgewichen wäre, wobei er fast mit einem zweiten Tarn und seinem Reiter zusammenstieß. Dieser feuerte einen Bolzen ab, der mit lautem Geräusch in meine Satteltasche klatschte. Der dritte Krieger näherte sich von hinten. Ich wandte mich um, hob den Tarnstab, der um mein Handgelenk geschnallt war, und versuchte seine Klinge abzuwehren. Schwert und Tarnstab trafen klirrend aufeinander, und ein Schauer gelber Funken sprühte in alle Richtungen. Irgendwie mußte ich den Stab eingeschaltet haben. Mein Tarn und der des Angreifers wichen instinktiv vor dem Blitz zurück, und ich hatte mir unbeabsichtigt eine kleine Atempause verschafft. Hastig löste ich meinen Bogen aus der Schlinge, setzte einen Pfeil auf und riß meinen Tarn in eine plötzliche Wende. Der erste meiner Verfolger hatte mit diesem Manöver vermutlich nicht gerechnet, sondern sich auf eine Jagd eingestellt. Als ich ihn passierte, sah ich seine aufgerissenen Augen in dem ›Y‹ seines Helms, als er erkannte, daß ich auf diese kurze Entfernung mein Ziel unmöglich verfehlen konnte. Ich sah, wie er plötzlich im Sattel erstarrte, und bekam noch mit, daß sein Tarn kreischend davonflatterte.
Jetzt warteten die beiden anderen Männer der Patrouille auf eine Gelegenheit zum Angriff. Sie schwebten heran, etwa fünf Meter voneinander entfernt, und versuchten mich in die Zange zu nehmen. Sie gedachten die Flügel meines Tarn in die Höhe zu heben und den Augenblick meiner Hilflosigkeit auszunutzen. Mir blieb keine Zeit zum Überlegen, doch plötzlich merkte ich, daß ich das Schwert gezogen und den Tarnstab in den Gürtel geschoben hatte. Als wir in der Luft zusammenstießen, zog ich heftig am ersten Zügel und brachte die stahlbewehrte n Krallen meines Kampftarn ins Spiel. Und bis zum heutigen Tage bin ich den Tarnzüchtern von Ko-ro-ba dankbar für das sorgfältige Training meines großen Vogels. Vielleicht sollte ich auch den Kampfgeist des gefiederten Riesen loben, meines Kampftarn, den der Ältere Tarl den Tarn aller Tarns genannt hatte. Schnabel und
Krallen zuckten vor, und mit ohrenbetäubendem Kreischen stürzte sich mein Tarn auf die beiden anderen Vögel.
Ich kreuzte die Klinge mit dem nächsten der beiden Krieger; der Kampf konnte nur wenige Sekunden gedauert haben. Ich merkte plötzlich wie aus weiter Ferne, daß einer der feindlichen Tarns, heftig mit den Flügeln schlagend, zu Boden ging. Der andere Krieger zog seinen Tarn herum, als wollte er einen neuen Angriff beginnen, doch dann schien ihm plötzlich bewußt zu werden, daß es jetzt seine Pflicht war, Alarm zu geben. Er stieß einen wütenden Schrei aus, wendete sein Tier erneut und raste auf die Lichter der Stadt zu.
Er glaubte sicher, daß er mir entkommen konnte, aber ich kannte meinen Tarn. Ich gab ihm die Zügel frei und feuerte ihn an. Als wir uns dem fliehenden Krieger näherten, legte ich einen zweiten Pfeil auf die Sehne. Ich wollte den Mann nicht umbringen, sondern zielte auf den Flügel seines Tarn. Der Vogel fuhr herum und begann sich um den verletzten Flügel zu kümmern. Der Krieger vermochte das Tier nicht mehr zu lenken, und ich sah, wie der Tarn mit ungeschickten Bewegungen langsam zu Boden kreiselte.
Ich zog wieder am ersten Zügel, und als wir eine ausreichende Höhe erreicht hatten, schlugen wir wieder die Richtung nach Ar ein. Ich wollte über die gewöhnlichen Patrouillen hinwegfliegen. Als ich mich der Stadt näherte, beugte ich mich über den Hals des Tarns und hoffte, daß mein Tier für einen wilden Tarn gehalten wurde, der hoch über der Stadt dahinflog.
Die Stadt Ar mußte aus über hunderttausend Zylindern bestehen, die mit den Lichtern des Pflanzfestes geschmückt waren. Ich gestand mir gern ein, daß Ar die größte Stadt des bekannten Gor war. Sie war großartig und schön, ein würdiger Rahmen für das Juwel des Imperiums – ein Juwel, das dem Ubar, dem siegreichen Marlenus, zur Versuchung geworden war. Und irgendwo dort unten in der gewaltigen Helligkeit lag ein unscheinbarer Stein, der Heimstein dieser großen Stadt, und ich mußte ihn an mich bringen.
6
Es bereitete mir keine Mühe, den größten Zylinder Ars auszumachen, das Gebäude des Ubar Marlenus. Als ich näher herankam, sah ich, daß auf allen Brücken ein lebhaftes Treiben herrschte; viele der Feiernden mochten bereits vom Paga berauscht sein. Zwischen den Zylindern flogen Tarnkämpfer dahin und genossen offenbar Freiheiten des Festes, flogen miteinander um die Wette, veranstalteten spielerische Kämpfe, ritten Attacken gegen die Brücken und zogen ihre Tiere nur Zentimeter über den Köpfen der erschreckten Passanten hin. Kühn senkte ich meinen Tarn herab, steuerte ihn mitten Zwischen die Zylinder, einer von vielen wilden Tarnkämpfern der Stadt. Ich ließ mein Tier auf einer der Stahlstangen landen, die hier und da aus den Zylindern ragten und die für die Tarns bestimmt sind. Der große Vogel hob und senkte vorsichtig die Flügel, und seine stahl bewehrten Krallen schurrten über die Stange. Endlich war er im Gleichgewicht, faltete seine Flügel unter und blieb still sitzen, reglos bis auf die wachsamen Bewegungen des großen Kopfes und das Blitzen der bösen Augen, die die Menschenströme auf den nahegelegenen Brücken betrachteten. Mein Herz begann wild zu schlagen, und ich überlegte, wie leicht es noch war, aus Ar zu fliehen. Einmal flog ein betrunkener Krieger ohne Helm vorbei und wollte ebenfalls auf meiner Stange landen – ein wilder Tarnsmann von niedrigem Rang, der es auf einen Kampf abgesehen hatte. Ihm Platz zu machen, war unmöglich, denn das hätte sofort Mißtrauen erweckt. Auf Gor gibt es nur eine ehrenvolle Antwort auf eine Herausforderung – sie sofort anzunehmen.