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Ohne nachzudenken, ergriff ich meinen Speer, zog mit hastiger Bewegung am vierten Zügel und leitete damit einen abrupten Abstieg ein. Der Vogel landete zwischen dem kranken Menschen und dem näherkommenden Larl.

Ich wagte es nicht, meinen Speer von dem sicheren, doch schwankenden Sattel des Tarn aus zu werfen; vielmehr sprang ich zu Boden. Im nächsten Augenblick stieß der Larl seinen Jagdschrei aus und griff an. Das Entsetzen über den wilden Schrei griff mit Riesenfäusten nach mir – ein unkontrollierbarer Reflex, der mich lahmte. Doch so schnell er gekommen war, klang der Moment der Erstarrung auch wieder ab, und ich hob den Speer, um dem Ansturm des Larls zu begegnen. Vielleicht hatte mein plötzliches Erscheinen das Tier unsicher gemacht oder seine Instinkte verwirrt – jedenfalls hatte es wohl eine Sekunde zu früh geschrien, so daß ich Muskeln und Nerven wieder in die Gewalt bekommen konnte. Als das gewaltige Raubtier, noch fünf Meter entfernt, zu einem gewaltigen Sprung ansetzte, hatte ich meinen Speer wie eine Pike in den Boden gestemmt und stütze ihn vorsichtig ab. Die Speerspitze verschwand in der pelzigen Brust des Larls, und der Speerschaft begann darin zu versinken, als das Ge wicht des Tieres die Spitze weiter hineintrieb. Ich sprang zur Seite, wobei ich den Zuckungen der gefährlichen Vorderpranken nur knapp entging. Der Speerschaft brach ab, und das Ungeheuer ging zu Boden. Es stieß wilde, durchdringende Schreie aus und versuchte den kleinen spitzen Gegenstand aus seinem Körper zu entfernen. Erschaudernd rollte der große Kopf schließlich zur Seite, und die Augen schlössen sich, bis nur noch ein milchiger Schlitz zu sehen war.

Ich wandte mich um und musterte den Mann, dessen Leben ich gerettet hatte. Er stand gebückt vor mir. Seine Kapuze verdeckte das Gesicht. »Von der Sorte gibt es hier noch mehr«, sagte ich. »Du solltest mit mir kommen. Hier bist du nicht sicher.«

Die Gestalt schien kleiner zu werden in ihren gelben Lumpen. »Die Heilige Krankheit«, flüsterte sie und deutete auf ihr Gesicht. Das war die wörtliche Übersetzung des Wortes Dar-Kosis – Heilige Krankheit. Dieser Namen entspringt dem Glauben, daß sie den Priesterkönigen heilig sei und daß alle, die unter ihr leiden, den Priesterkönigen verschrieben sind. Entsprechend gilt es als Sünde, ihr Blut zu vergießen. Die Aussätzigen hatten ohnehin wenig von ihren Mitmenschen zu furchten; ihre Krankheit ist auf dem Planeten derart gefürchtet, daß selbst kühnste Gesetzesbrecher einen weiten Bogen um sie machen.

An verschiedenen Orten gibt es Dar-Kosis -Gruben, in denen die Aussätzigen sich freiwillig aufhalten können und wo sie vom Rücken hochfliegender Tarns aus versorgt werden. Ist ein Aussätziger erst einmal in einer solchen Grube, darf er sie nicht wieder verlassen. Dieser arme Bursche hier mußte aus einer der Gruben geflohen sein.

»Wie heißt du?« fragte ich.

»Ich bin ein Aussätziger«, jammerte die unheimliche Gestalt. »Die Aussätzigen sind tot. Die Toten sind namenlos.«

Ich war froh, daß es dunkel war und daß der Mann seine Kapuze herabgezogen hatte, denn ich hatte wenig Lust, sein verwüstetes Gesicht zu sehen.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte ich und deutete auf den

Tarn, der ungeduldig seine Flügel schüttelte. »Beeil dich. Es sind noch mehr Larls in der Nähe.«

»Die Heilige Krankheit«, sagte der Mann noch einmal.

»Ich kann dich nicht hier zurücklassen«, sagte ich. Ich erschauderte bei dem Gedanken, das entsetzliche Wesen in meinen Sattel zu heben. Ich fürchtete die Krankheit – doch ich konnte den Mann hier nicht den Raubtieren überlassen.

Die Gestalt lachte – ein dünnes, jammerndes Geräusch. »Ich bin längst tot«, lachte sie wild. »Möchtest du die Heilige Krankheit haben?« fragte er und streckte eine Hand aus, als wollte er nach mir greifen.

Ich wich entsetzt zurück.

Das Ding stolperte vor, griff nach mir und fiel mit leisem Stöhnen zu Boden. Es saß dort vor mir, in gelbe Lumpen gekleidet – ein Häuflein Verzweiflung unter den drei goreanischen Monden. Es schaukelte hin und her und stieß leise Laute des Wahnsinns aus.

Aus einiger Entfernung hörte ich das Brüllen eines Larls.

»Steh auf«, sagte ich. »Wir haben nicht viel Zeit.«

»Hilf mir«, wimmerte der andere.

Ich unterdrückte meinen Ekel und streckte meine Hand aus. »Komm, faß an«, sagte ich. »Ich helfe dir.«

Aus dem Häuflein Lumpen streckte sie mir eine Hand entgegen, deren Finger gekrümmt waren wie die Spitzen einer Tierklaue. Ich schloß die Augen und griff zu, um das unglückliche Wesen hochzuziehen.

Zu meinem Erstaunen war die Hand des Mannes fest und hart wie Sattelleder. Ehe ich überhaupt wußte, was mit mir geschah, wurde mein Arm nach unten gezogen, und ich lag zu Füßen des Mannes, der blitzschnell aufsprang und einen Stiefel auf meinen Hals setzte. Seine Hand umspannte ein Schwert und führte dessen Spitze auf meine Brust. Der Mann lachte dröhnend und warf seinen Kopf hoch, wobei seine Kapuze zurückfiel. Ich sah einen massigen, löwenähnlichen Kopf mit ungezähmtem langem Haar und einem Bart, der so wild war wie die Voltai-Berge. Der Mann, der vor mir anzuwachsen schien, zog aus seinen gelben Roben eine Tarnpfeife hervor und ließ einen schrillen Ton hören. Sofort wurde dieser Laut von anderen Pfeifen aufgenommen, die aus allen Richtungen von den Bergen herabklangen. Kaum eine Minute später war die Luft von wildem Flügelschlag erfüllt, und etwa ein halbes Hundert wilder Tarnkämpfer landete auf der Ebene. »Ich bin Marlenus, Ubar von Ar«, sagte der Mann.

14

Ich war in kniender Stellung gefesselt, und mein Rücken blutete von zahlreichen Peitschenschlägen. Neun Tage lang war ich nun schon ein Gefangener in Marlenus Lager, gefoltert und geschunden. Jetzt wurde ich vor den Ubar gebracht – zum erstenmal, seit ich sein Leben gerettet hatte. Vielleicht gedachte er, die Leiden des Kriegers, der den Heimstein seiner Stadt gestohlen hatte, endlich zu beenden. Einer seiner Tarnkämpfer griff in mein Haar und zwang meine Lippen zu seiner Sandale hinab. Ich hob den Kopf hoch und hielt den Rücken gerade und ließ in meinem Blick nichts erkennen, das ihm Befriedigung verschaffen konnte. Ich kniete auf dem Felsboden einer flachen Höhle irgendwo im Voltai – links und rechts flackerten abgeschirmte Feuer. Auf einem Thron aus aufgestapelten Felsbrocken saß Marlenus. Das Haar fiel ihm locker über die Schultern, und sein großer Bart reichte fast bis zum Schwertgürtel. Er war ein riesiger Mann, größer noch als der Ältere Tarl, und in seinen wilden grünen Augen loderte das Feuer, das ich auch in den Augen seiner Tochter Talena gefunden hatte. Obwohl ich von der Hand dieses großartigen Barbaren sterben sollte, verspürte ich keine Abneigung gegen ihn.

Um den Hals trug er die goldene Kette des Ubar – eine medaillongroße Nachbildung des Heimsteins von Ar. Seine Hände umschlossen den eigentlichen Stein, jenen winzigen Quell für all das Blutvergießen. Seine Finger betasteten ihn sanft.

Am Höhleneingang hatten zwei seiner Männer eine Tharlarionlanze in eine Vertiefung geschoben. Vermutlich sollte ich nun aufgespießt werden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine solche grausame Hinrichtung vorzunehmen, und einige Methoden sind natürlich rücksichtsvoller als andere. Ich rechnete kaum damit, daß mir ein schneller Tod gewährt werden würde.

»Du hast den Heimstein Ars gestohlen«, sagte Marlenus. »Ja«, erwiderte ich.

»Eine tüchtige Leistung«, sagte Marlenus und betrachtete den Stein. Ich kniete vor ihm und wunderte mich, daß er – und die übrigen Anwesenden – kein Interesse am Schicksal seiner Tochter zeigten. »Du weißt natürlich, daß du sterben mußt«, sagte Marlenus, ohne mich anzuschauen.

»Du bist ein junger, mutiger und dummer Krieger«, sagte er und beugte sich vor. Lange schaute er mir in die Augen und setzte sich dann wieder zurecht. »Es gab eine Zeit, da war ich ebenso jung und mutig – und vielleicht ebenso dumm.« Marlenus starrte über meinen Kopf ins Leere. »Ich riskierte mein Leben tausendfach und verschenkte meine Jugend an die Vision eines geeinigten Imperiums von Ar, die Vision, daß es auf Ar nur noch eine Sprache, einen Handel, eine Art von Gesetzen gäbe, daß die Straßen und Gebirgspässe sicher wären, daß das Landvolk seine Felder in Frieden bestellen könnte, daß es nur einen Rat gäbe, der über die Politik entscheidet, daß nur noch eine übergeordnete Stadt bestünde, unter deren Einfluß sich die Zylinder von hundert feindlichen Städten zusammenfinden – und all dies hast du vernichtet.« Marlenus sah mich an. »Was kannst du von all dem wissen – du, ein einfacher Tarnsmann? Aber ich, Marlenus, der ich mehr als ein einfacher Krieger war. Wo die anderen nur die Regeln ihrer Kasten sahen, wo die anderen keine Verpflichtung spürten als die gegenüber ihrem Heimstein, wagte ich es, den Traum von Ar zu träumen – wagte mir vorzustellen, daß dem sinnlosen Blutvergießen ein Ende bereitet werden könnte, daß Ängste und Gefahren, Rachefeldzüge und Grausamkeiten, die unser Leben verdunkeln, in die Vergangenheit verbannt werden sollten – ich träumte, daß sich aus der Asche meiner Eroberungen eine neue Welt erheben würde, eine Welt der Ehre und der Ordnung, der Macht und Gerechtigkeit.«