»Deine Tochter haßt mich«, sagte ich.
»Sie hat dem Werben Pa-Kurs, des Attentäters, nur nachgegeben, damit du auf dem Holzgestell eine Überlebenschance hattest.«
»Woher weißt du das?« fragte ich.
»Das ist im Lager Pa-Kurs allgemein bekannt«, erwiderte Marlenus. Ich spürte, daß er lächelte. »Ich selbst habe es als Aussätziger von Mintar gehört, der der Kaste der Kaufleute angehört. Die Händler müssen sich ihre Freunde auf beiden Seiten des Zauns halten, denn wer kann wissen, ob nicht Marlenus eines Tages wieder auf dem Thron Ars sitzt?«
Ich muß einen Freudenschrei ausgestoßen haben, denn Marlenus legte mir hastig die Hand auf den Mund.
Er fragte nicht mehr, ob er mich umbringen sollte, sondern richtete sich auf und ging davon.
Mit schmerzhaftem Ruck hoben sich die beiden Tarns in die Lüfte. Einen Augenblick schwang ich frei zwis chen den Vögeln. Als wir eine Höhe von etwa hundert Metern erreicht hatten, steuerten die beiden Reiter nach einem vorher vereinbarten Signal – dem schrillen Pfiff einer Tarnpfeife – ihre Tiere in entgegengesetzte Richtungen. Der plötzliche Schmerz schien meinen Körper auseinanderzureißen. Ich muß gegen meinen Willen aufgeschrien haben. Die Vögel zogen davon, versuchten sich voneinander zu entfernen. Von Zeit zu Zeit ließen die Tiere in ihren Bemühungen nach, und die Seile erschlafften. Ich hörte die Flüche der Tarnreiter über mir und sah auch zweimal das Aufblitzen der Tarnstäbe. Dann verstärkten die Vögel ihren Zug wieder, und der unerträgliche Schmerz begann erneut.
Plötzlich ertönte ein schnurrendes Geräusch, und eine der Handfesseln riß. Ohne nachzudenken, fummelte ich an der Fessel des anderen Arms herum, und als der Vogel wieder anflog, wurde mir die Schlinge schmerzhaft über die Hand gerissen, und das Seil tanzte in die Dunkelheit davon, und ich schwang kopfüber an den Seilen des anderen Tarn. Es mochte einige Augenblicke dauern, bis die Tarnkämpfer die Wahrheit erkannten, denn sie mußten natürlich zunächst vermuten, daß sie meinen Leib auseinandergerissen hatten. Ich schwang mich hoch und begann an einem der beiden Seile hinaufzuklettern, die zu dem großen Vogel über mir führten. Nach wenigen Augenblicken hatte ich den Sattelgurt erreicht und klammerte mich an den Waffenringen fest.
Da entdeckte mich der Tarnkämpfer und stieß einen Wutschrei aus. Er zog sein Schwert und hieb nach mir, und ich ließ mich auf eine Klaue des Vogels gleiten, der sofort vom Kurs abkam. Im nächsten Augenblick lockerte ich den Sattelgurt, und der gesamte Sattel, an den sich der Reiter festgeschnallt hatte, glitt vom Rücken des Vogels und taumelte in die schwarze Dunkelheit unter mir.
Ich hörte den Schrei des Tarnkämpfers – ein Schrei, der plötzlich abbrach.
Der andere Tarnmann mußte etwas gemerkt haben. Jede Sekunde war kostbar. Ich setzte alles auf eine Karte, tastete in der Dunkelheit nach den Zügeln des Vogels und vermochte schließlich den Halsriemen des Tieres zu umfassen. Der plötzlich nach unten gerichtete Druck meiner Hand hatte die gewünschte Wirkung. Der Vogel meinte, der vierte Zügel wäre gezogen worden, und begann sofort an Höhe zu verlieren. Eine Minute später hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen – ein wildes Hochplateau. Ein roter Schimmer zog über den Bergen herauf, und ich wußte, daß der Morgen anbrach. Meine Fußgelenke waren noch immer an den Vogel gefesselt, und hastig löste ich die Seile. Im ersten Schimmer des Morgenlichts entdeckte ich in einiger Entfernung das Gesuchte – den Sattel und den verkrümmten Körper des Tarnsmannes. Ich ließ den Vogel stehen, rannte zu dem Sattel und nahm die Armbrust an mich, die zu meiner Freude noch in Ordnung war. Auch der Spezialköcher war voll. Ich
spannte den Bogen und setzte einen Bolzen ein. Ich vermochte den anderen Tarn über mir zu hören. Als er zum Angriff herabschwebte entdeckte der Reiter zu spät meine Armbrust. Das Geschoß ließ ihn im Sattel zusammensinken.
Der Tarn, mein schwarzer Riese aus Ko-ro-ba, landete und kam majestätisch näher. Ich wartete unruhig, bis er den Kopf zutraulich über meine Schulter streckte und seinen Hals lang machte. Fröhlich kratzte ich ihm eine Handvoll Läuse aus den Federn und klatschte sie wie eine Süßigkeit auf seine Zunge. Dann tätschelte ich ihm freundlich das Bein, stieg zum Sattel hinauf, stieß den toten Reiter zu Boden und gürtete mich fest.
Ich fühlte mich großartig. Ich hatte wieder Waffen und meinen Tarn, dazu einen Tarnstab und einen kompletten Sattel. Ich schwang mich in die Lüfte, ohne noch einen Gedanken an Ko-ro-ba oder den Heimstein zu verschwenden. Mit großem Optimismus ließ ich meinen Tarn über den Voltai-Bergen aufsteigen und nahm Kurs auf Ar.
15
Ar, zwar belagert, doch noch unbesiegt, war ein großartiger Anblick. Seine herrlichen schimmernden Zylinder ragten stolz hinter den schneeweißen Marmorbefestigungen auf, den Doppelmauern; die erste war hundert Meter hoch, die zweite – zwanzig Meter dahinter – sogar hundertunddreißig Meter. Die Mauern waren so breit, daß man mit sechs Tharlarionwagen nebeneinander darauf entlangfahren konnte. In Abständen von fünfzig Metern erhoben sich vorspringende Türme. Über der Stadt, über den Mauern und Zylindern, machte ich hier und dort das Blitzen schwankender Tarndrähte aus – Hunderttausende dünner Drähte, die sich als schützendes Netz über die Stadt erstreckten. Einen Tarn durch dieses Schutznetz zu steuern, war nahezu unmöglich; die Drähte mußten ihm die Flügel vom Leib trennen.
In der Stadt hatten die Wissenden, die kurz nach Marlenus Flucht an die Macht gekommen waren, sicherlich schon die Belagerungsvorräte angegriffen und die gewaltigen Kornspeicher unter Verwaltung gestellt. Bei vernünftiger Rationierung mochte eine Stadt wie Ar eine Generation lang ausharren. Außerhalb der Mauern hatten sich Pa-Kurs Streitkräfte
gesammelt und richteten sich unter Anleitung der besten goreanischen Belagerungsexperten auf den Kampf ein. Einige hundert Meter von den Mauern entfernt, außer Armbrustschußweite, hoben Tausende von Belagerungssklaven einen riesigen Graben aus. Bei ihrer Vollendung sollte die Grube fünfzehn bis zwanzig Meter breit und fast fünfundzwanzig Meter tief sein. Am rückwärtigen Rand des Grabens wurde die ausgehobene Erde zu einem großen Wall aufgeworfen. Oben auf diesem Wall entstanden zahlreiche Löcher, die hinter beweglichen Holzschilden Bogenschützen und sonstige Artillerie beherbergen sollten. Zwischen diesem Graben und den Stadtmauern waren in der Dunkelheit Tausende von angespitzten Pfählen aufgestellt worden, der Stadt zugeneigt. Manche dieser Todesfallen waren getarnt oder in Gruben aufgestellt. Hinter dem großen Graben zog sich in einigen hundert Metern Entfernung eine kleinere Grube hin – etwa fünf Meter breit und fünf Meter tief, ebenfalls mit einem Wall versehen. Auf diesem erhob sich eine Palisade angespitzter Stämme. In dieser Palisadenwand gähnte alle fünfzig Meter ein Holztor; Zugänge zu den zahllosen Zelten des belagerten Heeres.
Hier und dort wurden zwischen den Zelten Belagerungstürme konstruiert. Neun solche Baustellen waren zu sehen. Es war undenkbar, daß sie die Mauern Ars überragten, aber mit ihren Sturmrammen konnten sie vielleicht weiter unten Schaden anrichten. Die Mauerkronen sollten von Tarnkämpfern angegriffen werden. Wenn die Zeit der Attacke heranrückte, sollten Brücken über die Gräben geschlagen werden; über diese Brücken würden sich die Heerscharen von Kämpfern ergießen. Leichtes Kampfgerät, zumeist Katapulte, wurden von gepanzerten Tarnteams über die Gräben geschafft.
Ein Aspekt der Belagerung mußte meinen Augen verschlossen bleiben -das war das heftige Duell des Tunnelgrabens von beiden Seiten. Wahrscheinlich waren bereits zahlreiche unterirdische Gänge in Arbeit, in denen zweifellos einige der heftigsten Kämpfe der Belagerung ausgetragen wurden. Natürlich erschien es angesichts der Fundamente der mächtigen Stadtmauern unwahrscheinlich, daß sie durch Tunnel zum Einsturz gebracht werden konnten, aber es war denkbar, daß sich einer der Tunnels unbemerkt in die Stadt hineinführen ließ, wodurch ein mutiger Trupp hinter die Reihen der Verteidiger gelangen und von dort etwa gegen das Haupttor vorgehen konnte.