»Ich bin Tarl Cabot«, sagte ich.
»Ich bin dein Vater«, sagte er und reichte mir die Hand. Die vertraute Geste beruhigte mich etwas. Ich war überrascht, daß ich diesen Fremden nicht nur als Wesen von meiner Welt hinnahm, sondern auch als den Vater, an den ich mich nicht erinnern konnte.
»Wie geht es deiner Mutter?« fragte er, und seine Augen verrieten Besorgnis.
»Sie ist vor vielen Jahren gestorben«, sagte ich.
Er sah mich an. »Von allen war sie mir am liebsten«, sagte er und wandte sich ab. Ich war wütend auf mich selbst, da ich gegen meinen Willen Mitleid mit ihm verspürte. Hatte er nicht meine Mutter und mich im Stich gelassen? Doch irgendwie fühlte ich mich gedrängt, zu ihm zu treten und ihm die Hand auf den Arm zu legen, ihn zu berühren. Etwas rührte sich in mir, verschwommene, schmerzhafte Erinnerungen tauchten auf, die viele Jahre lang geruht hatten.
»Vater«, sagte ich.
Er richtete sich auf, wandte sich um und blickte mich traurig an. »Mein Sohn«, antwortete er.
Wir trafen uns in der Mitte des Raumes und umarmten einander. Ich weinte, und er weinte ebenfalls. Ich sollte später erfahren, daß ein Mann auf dieser Welt seine Gefühle ohne Scheu zeigen darf.
Schließlich trennten wir uns.
Mein Vater musterte mich mit ruhigem Blick. »Sie wird die letzte sein«,
sagte er. »Ich hatte kein Recht auf ihre Liebe.« Er hielt inne. »Vielen Dank für dein Geschenk, Tarl Cabot«, sagte er dann.
Ich sah ihn verwirrt an.
»Die Handvoll Erde«, sagte er. »Eine Handvoll Heimatboden.«
Ich nickte. Ich wollte jetzt nicht sprechen, wollte vielmehr all die unzähligen Dinge hören, die ich wissen mußte.
»Du wirst hungrig sein«, sagte er.
»Ich möchte wissen, wo ich bin und was ich hier soll«, entgegnete ich.
»Natürlich«, erwiderte er. »Aber du mußt auch essen.« Er lächelte.
»Während du deine Mahlzeit einnimmst, rede ich mit dir.«
Er klatschte in die Hände, und das Wandstück glitt erneut zurück. Ich war verblüfft. Durch die Öffnung kam ein junges Mädchen, dessen blondes Haar zurückgebenden war. Sie trug ein ärmelloses diagonal gestreiftes Kleidungsstück. Sie war barfuß und trug als einzigen Schmuck ein leichtes Stahlband um den Hals. Mit schnellen Schritten verschwand sie wieder.
»Du kannst sie heute abend haben, wenn du willst«, sagte mein Vater, der das Mädchen kaum zu bemerken schien.
Ich war nicht sicher, was er meinte, und lehnte ab.
Auf das Drängen meines Vaters begann ich zu essen. Das Mahl war einfach, doch es schmeckte ausgezeichnet. Das Brot war noch heiß, das Fleisch schien von irgendeinem Wild zu sein. Die Früchte – eine Art Trauben und Pfirsiche – waren frisch und kalt wie Bergschnee. Während des Essens berichtete mein Vater.
»Gor«, sagte er, »so heißt diese Welt. In allen Sprachen des Planeten bedeutet das ›Heimstein‹.« Er hielt inne. »Heimstein«, wiederholte er.
»In den Dörfern dieser Welt«, fuhr er fort, »wurde jede Hütte ursprünglich um einen flachen Stein gebaut, der das Zentrum des kreisförmigen Gebäudes bildete. In ihn wurde das Familienzeichen eingeritzt, und er wurde Heimstein genannt. Es handelte sich gewissermaßen um ein Zeichen der Selbständigkeit, eine Abgrenzung des Lebensraums, und jeder Mann war sein eigener Herr in seiner Hütte.
Später wurden Heimsteine auch für Dörfer benutzt und schließlich für Städte. Der Heimstein eines Dorfes ruht immer auf dem Marktplatz; und in einer Stadt wird er stets auf der Spitze des höchsten Turms aufbewahrt. Mit der Zeit kamen dem Heimstein mystische Kräfte zu, er löste etwas von jenen Gefühlen aus, die die Erdenmenschen gegenüber ihren Flaggen entwickeln.«
Mein Vater war aufgestanden und schien sich an seinem Thema zu erwärmen. Mit der Zeit sollte ich einiges von dem begreifen, was ihn in diesem Augenblick erfüllte. Tatsächlich gibt es eine Regel auf Gor, wonach jeder, der von Heimsteinen spricht, aufstehen soll, um dem Thema Ehre zu erweisen.
»Diese Steine«, fuhr mein Vater fort, »sind natürlich verschieden geformt und gefärbt, und viele weisen komplizierte Muster auf. Manche große Stadt hat nur einen kleinen, unscheinbaren Heimstein, der allerdings aus der Zeit stammen mag, da die Stadt noch ein kleines Dorf war. Wo immer ein Mann seinen Heimstein pflanzt, beansprucht er das Land für sich. Gutes Land wird nur durch die Schwerter der stärksten Landeigner in der Umgebung geschützt.«
»Schwerter?« fragte ich.
»Ja«, sagte mein Vater, als wäre das gar nichts Ungewöhnliches. Er lächelte. »Du hast noch viel über Gor zu lernen«, sagte er. »Es gibt eine Hierarchie der Heimsteine, so könnte man sagen. Zwei Soldaten, die sich wegen eines Streifens guten Landes umbringen würden, kämpfen Seite an Seite bis zum Tode um den Heimstein ihres Dorfes oder der Stadt, in deren Einflußbereich ihr Dorf liegt.
Ich werde dir eines Tages meinen eigenen kleinen Heimstein zeigen, den ich in meinen Räumen aufbewahre. Er umschließt eine Handvoll Erde, die ich mitbrachte, als ich auf diese Welt kam. Das ist eine lange Zeit her.« Er betrachtete mich ruhig. »Ich werde die Erde aufbewahren, die du mir geschenkt hast«, sagte er leise, »und eines Tages gehört sie vielleicht dir, wenn du es schaffst, einen eigenen Heimstein zu erringen.«
Ich stand auf und sah ihn an.
Er hatte sich abgewandt, anscheinend in Gedanken versunken. »Von Zeit zu Zeit träumen Eroberer oder Staatsmänner davon, einen einzigen Großen Heimstein für den ganzen Planeten zu schaffen. Den Gerüchten zufolge gibt es einen solchen Stein, doch er liegt am Heiligen Ort und ist der Quell der Macht für die Priesterkönige.«
»Wer sind die Priesterkönige?« fragte ich.
Mein Vater drehte sich um, und er schien beunruhigt, als habe er bereits zuviel gesagt.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich muß dir wohl auch von den Priesterkönigen berichten. Aber laß mich das auf meine Art tun, damit du vielleicht besser verstehst, wovon ich spreche.« Wir setzten uns wieder, und mein Vater machte sich methodisch daran, mir seine Welt zu erklären.
In seinem Bericht bezeichnete mein Vater den Planeten Gor oft als Gegenerde – eine Bezeichnung, die aus den Schriften der Pythagoräer stammt, die als erste das Vorhandensein eines solchen Himmelskörpers vermutet hatten. Seltsamerweise wurde die Sonne in der Gor-Sprache auch als Lar-Torvis bezeichnet, was Mittelfeuer bedeutet, ein weiterer pythagoräischer Ausdruck, der allerdings meines
Wissens nicht auf die Sonne angewendet wurde. Es gab auf Gor eine Sekte, die die Sonne anbetete, wie ich später erfuhr, doch sie war klein und unbedeutend im Vergleich zum Kult der Priesterkönige. Die Priesterkönige, wer immer sie sein
on mochten, standen für die Bevölkerung im Range v Göttern. Sie waren die ältesten Götter Gors, und in einem Augenblick der Gefahr mochte selbst dem Mutigsten ein Gebet zu den Priesterkönigen von den Lippen kommen.
»Die Priesterkönige«, sagte mein Vater, »sind unsterblich. Das glauben wenigstens die meisten hier.«
»Glaubst du es auch?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, sagte mein Vater. »Vielleicht.«
»Was für Menschen sind das?« fragte ich.
»Man weiß nicht, ob es sich um Menschen handelt«, antwortete mein Vater.
»Was sind sie dann?«
»Vielleicht Götter.«
»Das meinst du doch nicht ernst!«
»Aber ja«, sagte er. »Ein Wesen, das über dem Tode steht und unvorstellbare Macht und Weisheit auf sich vereinigt, ist doch bestimmt dieses Namens wert.«
Ich schwieg.
»Ich würde eher vermuten«, fuhr mein Vater fort, »daß die Priesterkönige doch Menschen sind – Männer wie wir, oder jedenfalls humanoide Organismen irgendeiner Art -, mit einer Wissenschaft und Technologie versehen, die der unseren ebensoweit überlegen ist wie die Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts der der frühen Astrologen und Alchimisten.«
Seine Vermutung schien mir Hand und Fuß zu haben; sprachen nicht auch die Technologie des Umschlags, die Ausschaltung meines Kompasses und das seltsame Raumschiff dafür, daß hier Wesen am Werk waren, die ungewöhnliche Kräfte beherrschten?