Ich konnte mein Entsetzen kaum verbergen, so daß ein Tharlarionreiter neben mir amüsiert sagte: »Eine der Kapitulationsbedingungen. Talena, die Tochter Marlenus, wird aufgespießt.«
»Aber warum?« fragte ich. »Sie sollte doch Pa-Kurs Braut sein, sollte Ubara von Ar werden.«
»Als Marlenus floh«, sagte der Mann, »haben die Wissenden entschieden, daß alle Mitglieder seiner Familie aufgespießt werden.« Er lächelte grimmig. »Um nun vor den Stadtbewohnern das Gesicht zu waren, haben sie gefordert, daß sich Pa-Kur an dieses Urteil hält.« »Und Pa-Kur hat zugestimmt?«
»Natürlich«, sagte der Mann. »Ihm ist jeder Schlüssel recht, der das Stadttor öffnet.«
Mir wurde schwindlig, und ich taumelte durch die Reihen der Soldaten, die die Prozession beobachteten. Ich hastete durch die verlassenen Straßen des Lagers und suchte mir blindlings meinen Weg zu Kazraks Zelt. Ich warf mich auf den Schlafsack und begann zu weinen. Dann krallten sich meine Hände in den Stoff, und ich schüttelte heftig den Kopf, um den unkontrollierten Ansturm der Gefühle abklingen zu lassen. Der Schock, Talena wiederzusehen und das Schicksal zu erfahren, das sie erwartete, war einfach zuviel gewesen. Ich mußte mich zusammennehmen.
Mit langsamen Bewegungen stand ich schließlich auf und legte den schwarzen Helm und die Uniform der Kaste der Attentäter an. Ich lockerte das Schwert in seiner Scheide, schob den Schild auf meinen linken Arm und ergriff meinen Speer. Entschlossen verließ ich das Zelt. Mit schnellen Schritten ging ich zu dem großen Tarnstall am Eingang des Lagers.
Mein Tarn wurde mir gebracht. Er schimmerte gesund und schien voller Energie zu sein. Die Tage der Ruhe hatten ihm gutgetan; andererseits sehnte er sich bestimmt nach der Weite des Himmels. Ich warf dem Tarnwächter eine goldene Tarnmünze zu. Er hatte gute Arbeit geleistet. Ve rwirrt hielt er mir die Münze hin. Eine goldene Tarnmünze ist ein kleines Vermögen. Ich stieg in den Sattel und schnallte mich fest. Ich sagte dem Tarnpfleger, daß er das Geld behalten sollte – eine Geste, die mich seltsam erfreute. Außerdem rechnete ich nicht damit, daß ich noch die Chance hätte, das Geld selbst auszugeben. »Bringt mir vielleicht Glück«, sagte ich. Dann zog ich am ersten Zügel und ließ den gewaltigen Vogel in die Lüfte steigen.
18
Als der Tarn an Höhe gewann, sah ich das große Lager, die Gräben, die Doppelmauern Ars und Pa-Kurs gewaltige Prozession; die Morgensonne blitzte auf den Waffen der Soldaten. Ich dachte an Marlenus, der – wenn er noch am Leben war – dieses Schauspiel von seinem Turm aus beobachten konnte. Ich hoffte, daß er nicht wußte, welches Schicksal seine Tochter erwartete. Ich mußte versuchen, sie zu retten. Was hätte ich jetzt darum gegeben, Marlenus und seine Streitmacht auf meiner Seite zu haben, so klein sie auch sein mochte!
Als fielen plötzlich die Stücke eines Puzzlespiel an Ort und Stelle, formte sich ein Plan in meinem Kopf. Marlenus war in die Stadt eingedrungen.
Auf irgendeinem Wege. Tagelang hatte ich darüber nachgedacht – dabei erschien mir die Lösung so klar. Die Lumpen der Aussätzigen! Die Dar-Kosis -Gruben hinter der Stadt! Eine dieser Gruben mußte eine falsche Spur sein, mußte einen unterirdischen Eingang zur Stadt verdecken.
Wahrscheinlich hatte sich der schlaue Ubar schon vor Jahren einen solchen Fluchtweg geschaffen. Ich mußte die Grube und den Tunnel finden und mich irgendwie auf seine Seite schlagen.
Zunächst gab es noch etwas anderes zu erledigen. Ich ließ mein Tier geradewegs auf die Mauern der Stadt zurasen. Kaum eine Minute später schwebte ich über der Innenmauer in der Nähe des großen Tores. Die Soldaten brachten sich Hals über Kopf in Sicherheit, als ich meinen Tarn landete. Niemand wagte es, die Hand gegen mich zu erheben. Ich trug die Uniform eines Kriegers der Kaste der Attentäter, und an der linken Seite meines Helms schimmerte der goldene Streifen eines Kuriers.
Ohne abzusteigen, verlangte ich nach dem befehlshabenden Offizier.
Ein grauhaariger Mann kam niedergeschlagen herbei. Er hatte keine Freude daran, von einem Feind der Stadt gerufen zu werden.
»Pa-Kur nähert sich der Stadt!« rief ich. »Ar gehört ihm.«
Die Männer schwiegen.
»Ihr heißt ihn willkommen«, sagte ich verächtlich, »indem ihr das große Tor öffnet, aber ihr habt die Tarndrähte nicht eingezogen. Nehmt sie sofort herunter, damit seine Tarnkämpfer die Stadt ungehindert betreten können.«
»Das gehörte nicht zu den Kapitulationsbedingungen«, sagte der Offizier.
»Ar ist gefallen«, sagte ich. »Gehorche dem Wort Pa-Kurs.« »Gut«, sagte der Offizier und wandte sich an einen Untergebenen. »Laßt das Netz herab.«
Der Befehl pflanzte sich über die Mauer fort, von Turm zu Turm. Kurz darauf setzten sich die großen Winden in Bewegung, und Meter um Meter sank das entsetzliche Tarnnetz herab. Sobald es den Boden erreichte, wurde es auseinandergenommen und zusammengerollt. Mir ging es natürlich nicht daru m, den Weg für die Tarnkämpfer Pa-Kurs zu ebnen, die meines Wissens gar nicht zur Besatzungsmacht gehörten, sondern ich wollte den Himmel über der Stadt frei haben, damit ich und andere einen Fluchtweg offen hatten.
Hochmütig fuhr ich fort: »Pa-Kur möchte außerdem wissen, ob der frühere Ubar Marlenus noch am Leben ist.«
»Ja«, sagte der Offizier, »im Zentralzylinder.«
»Ist er gefangen?«
»So gut wie gefangen.«
»Sorgt dafür, daß er nicht flieht.«
»Das wird er nicht«, sagte der Mann. »Fünfzig Wächter sorgen dafür.«