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»Was ist mit dem Dach des Zylinders?« fragte ich. »Immerhin sind die Tarnnetze jetzt unten.«

»Ich glaube kaum, daß er fliegen kann«, erwiderte der Offizier; »Wohin soll Pa-Kur die Tochter des früheren Ubar bringen – wo soll sie hingerichtet werden?«

Der Offizier deutete auf einen fernen Zylinder. »Zum Justizzylinder. »Die Hinrichtung soll so schnell wie möglich stattfinden.« Der Zylinder war weiß, eine Farbe, die auf Gor ein Zeichen der Unparteilichkeit ist. Die Farbe deutete auch

n darauf hin, daß die i diesem Turm gesprochene Gerechtigkeit dem Denken der Wissenden entsprach.

Auf Gor gibt es zwei Rechtssysteme – das der Stadt, unter der Rechtsprechung eines Administrators oder Ubar, und das der Wissenden, die letztlich dem Obersten Wissenden jeder Stadt unterstehen. Die Trennung entspricht etwa der zwischen dem Zivil- und dem Kirchenrecht auf unserer Welt. Ich stellte entsetzt fest, daß auf dem Dach des Justizzylinders eine Hinrichtungsspitze schimmerte, fast fünfzehn Meter lang. Sie leuchtete aus der Ferne wie eine Nadel herüber.

Ich zog den Tarn erneut in die Luft. Es war mir gelungen, die Tarndrähte der Stadt zu beseitigen, und ich wußte, daß Marlenus noch am Leben war und einen Teil des Zentralzylinders hielt, und ich wußte, wo und wann Talenas Hinrichtung stattfinden sollte.

Ich ließ die Mauern Ars hinter mir zurück, wobei ich bestürzt registrierte, daß die Prozession Pa-Kurs die Stadt fast schon erreicht hatte. Ich sah den Tharlarion, auf dem er ritt, und neben ihm das Mädchen in ihrer weißen Robe.

Die nächsten drei Minuten kamen mir wie eine Stunde vor – dann endlich war ich hinter dem Lager Pa-Kurs und suchte nach den gefürchteten Dar-Kosis -Gruben, jenen Gefängnissen, die die Aussätzigen freiwillig aufsuchen können. Es gab mehrere solcher Gruben, von oben leicht zu erkennen – große, kreisförmige Vertiefungen, wie Brunnen in die Erde getrieben. Als ich meine Suche beendete, hatte ich nur eine solche Grube gefunden, in der sich keine Aussätzigen befanden. Ohne einen Gedanken an die mögliche Ansteckungsgefahr zu verschwenden, landete ich den Tarn in der verlassenen Grube. Der Riese erreichte den Felsboden, und aufschauend ließ ich meinen Blick an den künstlich geglätteten Felswänden entlangstreifen, die auf allen Seiten vielleicht dreihundert Meter hoch aufragten. Es war kalt hier unten. In der Mitte der Grube war eine Zisterne in den Fels gehauen, halb mit fauligem Wasser gefüllt. Soweit ich feststellen konnte, gab es keine Möglichkeit, die Dar-Kosis -Grube zu verlassen – außer auf dem Rücken eines Tarns. Wenn es einen geheimen Ausgang gab, von Marlenus für seine besonderen Zwecke geschaffen, dann war er nicht offensichtlich. Und ich hatte keine Zeit, mich sorgfältig umzusehen. Ich entdeckte einige der Höhlen, die in die Grubenwände geschlagen waren und als Unterkünfte für die Aussätzigen dienten. Verzweifelt suchte ich mehrere dieser Vertiefungen ab; einige waren nur klein, andere bestanden aus drei oder vier zusammenhängenden Räumen. Ich fand halb verrottete Schlafmatten, verrostete Metallteile wie Pfannen oder Kessel – doch der gesuchte Durchgang blieb mir verborgen. Als ich eine dieser Höhlen verließ, sah ich meinen Tarn auf der anderen Seite der Grube stehen, den Kopf ratlos auf die Seite gelegt. Der Vogel zog den Schnabel zurück und pickte daraufhin an einer anscheinend glatten Felswand, wiederholte mehrmals die Bewegung und begann sodann hin und her zu schreiten, wobei er ungeduldig die Flügel schüttelte.

Ich lief durch die Grube auf ihn zu und begann die Wand eingehend zu untersuchen. Ich starrte jeden Quadratzentimeter an und ließ meine Finger darübergleiten. Doch nichts zeigte sich – allerdings hing ein unmerklicher Duft von Tarnausscheidung in der Luft.

Mehrere Minuten lang untersuchte ich die glatte Felswand – in der Gewißheit, daß sie das Geheimn is barg. Verzweifelt trat ich schließlich zurück und hoffte, irgendwo einen ungewöhnlichen Vorsprung oder eine Vertiefung auszumachen, wo sich der Öffnungsmechanismus des Tunnels befinden mochte. Doch es offenbarte sich mir kein Hebel, Griff oder irgendeine sonstige Vorrichtung.

Ich erweiterte meine Suche und wanderte an den Felswänden entlang, die jedoch völlig unberührt und undurchdringlich schienen. Mit plötzlichem Aufschrei rannte ich zu der flachen Zisterne in der Mitte der Grube, warf mich der Länge nach auf den Boden, versenkte meine Hand in dem kühlen, übelriechenden Wasser und tastete verzweifelt den Boden ab.

Meine Finger umschlossen einen Griff, und ich drehte ihn mit hastiger Bewegung. Gleichzeitig ertönte hinter mir ein sanftes, rollendes Geräusch, irgendwo wurde ein schweres Gewicht hydraulisch angehoben und in der Balance gehalten. Zu meiner Verblüffung öffnete sich ein riesiger Durchgang in der Felswand. Ein gewaltiges Felsstück war nach oben zurückgeeilten und offenbarte einen großen, düsteren rechteckigen Tunnel, der groß genug schien, einen fliegenden Tarn aufzunehmen. Ich ergriff die Zügel meines Tieres und zerrte es durch die Öffnung. Hinter dem Tor machte ich einen zweiten Griff aus, der der Vorrichtung in der Zisterne entsprach. Ich drehte ihn, und die große Pforte schloß sich hinter mir. Ich gedachte das Geheimnis des Tunnels möglichst lange zu wahren.

Hier unten war es nicht völlig dunkel; der Tunnel wurde von den runden, drahtgeschützten Energiekugeln erhellt, die alle Hundert Meter schimmerten. Diese Kugeln, vor etwa hundert Jahren von der Kaste der Hausbauer erfunden, spenden ein klares, weiches Licht und müssen nur alle zwei Jahre ausgewechselt werden.

Ich bestieg den Tarn, der in dieser seltsamen Umgebung sichtlich nervös war. Ich tätschelte ihn und sprach beruhigend auf ihn ein, doch ich vermochte ihn nicht zu besänftigen. Als ich den ersten Zügel zog, reagierte das Tier nicht, doch beim zweitenmal erhob es sich in die Luft, wobei es fast die Decke berührte und mit den Flügelspitzen die Wände streifte. Mein Helm schützte mich vor dem Granit der Tunneldecke. Schließlich ging der Tarn etwas tiefer und schwebte nun mit zunehmender Geschicklichkeit durch den Gang, und die Energiekugeln blitzten wie eine hellschimmernde Kette an mir vorüber.

Am Ende unseres Fluges weitete sich der Tunnel zu einer riesigen Kammer, die von Hunderten von Energiekugeln erleuchtet war. Die Höhle enthielt einen gewaltigen Tarnkäfig, der etwa zwanzig riesige, halb verhungerte Tiere enthielt. Sie hoben die Köpfe, als sie uns sahen, und musterten uns aufmerksam. Der Boden des Käfigs war mit den Knochen und Federn von etwa fünfzehn Tarns bedeckt. Ich sagte mir, daß es sich um die Tiere Marlenus und seiner Männer handeln mußte, die oben im Zentralzylinder eingeschlossen waren. Wochenlang ohne Nahrung, waren die Tarns schließlich über ihre schwachen Artgenossen hergefallen. Der Hunger hatte sie zu unkontrollierbaren Raubtieren werden lassen.

Vielleicht konnte ich mir das zunutze machen. Irgendwie mußte ich Marlenus befreien. Ich wußte, daß meine Gegenwart den Wächtern unerklärlich sein mußte, wenn ich im Palast auftauchte, und daß ich mich hier nicht als Herold Pa-Kurs ausgeben konnte. Irgendwie mußte ich seine Belagerer zerstreuen oder niederkämpfen. Plötzlich hatte ich einen Plan. Zweifellos war ich bereits unter dem Zentralzylinder, und der belagerte Marlenus und seine Leute befanden sich da irgendwo über mir. Ich sah mich um. Eine breite Treppe führte zu einer Tür, die sicherlich den Zugang zum Zentralturm bildete. Befriedigt stellte ich fest, daß sie auch für einen Tarn groß genug war. Zum Glück war eine der Türen des Tarnkäfigs dieser Treppe zugewandt.

Ich nahm meinen Tarnstab und stieg ab. Ich ging zu der Treppe, die zum Tor hinaufführte, drehte den Hebel, und als sich die Wand zu bewegen begann, hastete ich die Treppe hinab und öffnete die Käfigtür. Durch diese Tür gedeckt, trat ich eilig zurück. Wenige Sekunden später steckte der erste der abgemagerten Tarns seinen Kopf durch die Käfigtür. Mit blitzenden Augen starrte er mich an. Für ihn war ich Nahrung, die er töten und auffressen würde. Er wanderte um die Tür herum und ging auf mich los. Ich schlug mit dem Tarnstab nach dem Angreifer, doch das Instrument schien keine Wirkung zu haben. Der gefährliche Schnabel stieß immer wieder vor; die großen Klauen schnappten hoch. Der Tarnstab wurde mir aus der Hand gerissen. In diesem Augenblick schaltete sich ein großer schwarzer Schatten in den Kampf ein; mit zustoßendem Schnabel und stahlbewehrten Klauen verwandelte mein schwarzer Tarn den Angreifer in Sekundenschnelle in einen traurigen Federhaufen. Eine der Krallen auf den geschlagenen Gegner gestemmt, stieß mein Tarn den Kriegsschrei seiner Rasse aus. Die anderen Tarns, die nun den Käfig verlassen wollten, zögerten. Doch dann bemerkten sie die offene Tür, die in den Zylinder führte.