»Nein!« rief der Ältere Tarl. »Das Training ist ausgezeichnet. Der Wille des Tarns darf nicht gebrochen werden – jedenfalls nicht bei einem Kampftarn. Er ist so weit gezähmt, daß es auf die Stärke seines Herrn ankommt, ob das Tier ihn auffrißt oder ihm gehorcht. Du wirst deinen noch kennenlernen, und er dich. Ihr beide werdet am H immel eins sein -der Tarn der Körper und du sein Wille. Du wirst in ständigem Waffenstillstand mit ihm leben. Wenn du schwach oder hilflos bist, tötet er dich. Solange du aber stark bleibst und dich als sein Herr behauptest, achtet und respektiert er dich.« Er schwieg einen Augenblick. »Wir waren uns deiner nicht sicher, dein Vater und ich, aber heute weiß ich es ganz genau. Du hast einen Tarn, einen Kampf tarn gezähmt. In deinen Adern muß das Blut deines Vaters fließen, der einmal Ubar, der Kriegsherr von Ko-ro-ba, der Stadt der Zylinder, war und jetzt ihr Administrator ist.«
Ich war überrascht, denn ich hatte nicht gewußt, daß mein Vater Kriegsherr dieser Stadt gewesen war und nun als ihr Oberster ziviler Beamter fungierte.
Unser Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. Das Brausen von Flügeln ertönte vor unserem Fenster, und der Ältere Tarl stürzte sich auf mich und zog mich zu Boden. Im gleichen Augenblick zischte der Eisenbolzen einer Armbrust durch eines der schmalen Fenster herein, prallte sirrend gegen die Wand hinter meinem Stuhlbein und flog kreiselnd durch das Zimmer. Ich erhaschte einen Blick auf den schwarzen Helm eines Tarnsmannes, der schon wieder davonflatterte. Rufe ertönten, hastige Schritte waren zu hören. Ich eilte an das Fenster und sah, daß mehrere Armbrustbolzen hinter dem Angreifer herflogen, der schon fast ein halbes Pasang entfernt war.
»Ein Mitglied der Kaste der Attentäter«, sagte der Ältere Tarl. »Marlenus, der gern Ubar von ganz Gor wäre, weiß von deiner Existenz.«
»Wer ist Marlenus?« fragte ich mit zittriger Stimme.
»Das erfährst du morgen«, erwiderte der Ältere Tarl. »Und morgen wird man dir auch sagen, warum du nach Gor gebracht wurdest.«
»Warum kann ich das nicht jetzt erfahren?«
»Weil der Morgen schnell genug heranrückt«, antwortete der Ältere Tarl.
Ich starrte ihn an. »Und heute abend?« fragte ich.
»Heute abend«, sagte er, »besaufen wir uns.«
Am nächsten Morgen erwachte ich auf der Schlafmatte in der Ecke meiner Wohnung. Mir war kalt. Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen, und es war, als stachen mir unzählige Speerspitzen durch das Gehirn. Ich stemmte mich vorsichtig hoch, stand auf, stolperte zur Waschschüssel auf dem Tisch und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Was gestern abend vorgefallen war, wußte ich nicht mehr so recht. Der Ältere Tarl und ich hatten eine Runde durch die Tavernen der Stadt gemacht, und ich wußte noch, daß ich singend über schmale, geländerlose Brücken gestolpert war. Der Ältere Tarl hatte ebenfalls von dem gegorenen Kornsaft zuviel getrunken; Pagar-Sa-Tarna hieß er, Vergnügen der Lebenstochter. Er wurde aber stets nur ›Paga‹ genannt. Ich hatte keine große Lust, das Zeug jemals wieder zu probieren. Ich erinnerte mich auch an die Mädchen in der letzten Taverne, herrliche Gestalten in seidenen Tanzkleidern, Unterhaltungssklaven, wie Tiere zur Leidenschaft gezüchtet. Wenn es geborene Sklaven und geborene Freie gab, wie der Ältere Tarl behauptete, dann waren jene Mädchen geborene Sklavinnen gewesen. Es war unmöglich, sie sich anders vorzustellen; aber auch sie hatten sicherlich ein schmerzhaftes Erwachen, rappelten sich auf, säuberten sich. Ich erinnerte mich besonders an ein Mädchen, ein gertenschlanker Körper, das schwarze Haar wirr auf den braunen Schultern, die Glocken an ihren Fußgelenken, das leise Klingen in der verhängten Nische. Ich mußte plötzlich daran denken, daß ich dieses Mädchen gern länger besessen hätte, als die eine Stunde, für die ich sie bezahlt hatte. Ich verbannte den Gedanken aus meinem schmerzenden Kopf und knöpfte eben meine Tunika zu, als der Ältere Tarl den Raum betrat. »Wir gehen jetzt in den Ratssaal«, sagte er.
Ich folgte ihm.
Der Ratssaal ist der Raum, in dem die gewählten Vertreter der Hohen Kasten Ko-ro-bas ihre Zusammenkünfte abhalten. Jede Stadt hat einen solchen Raum. Er befand sich im größten Zylinder, und die Decke war mindestens sechsmal so hoch wie ein gewöhnlicher Raum. Die Lichtpunkte, die mich an den Sternenhimmel erinnerten, funkelten an der Decke, und die Wände waren waagerecht mit Farbstreifen bemalt – von unten nach oben in weißer, blauer, gelber, grüner und roter Farbe, gemäß den Farben der Kasten. Steinbänke für die Ratsmitglieder erhoben sich in fünf Ebenen an diesen Wänden – eine Ebene für jede der Hohen Kasten. Die Bänke entsprachen der Färbung der Wand hinter ihnen.
Die unterste Bank, weißgestrichen, war den Wissenden Vorbehalten, den Interpreten des Willens der Priesterkönige. Hinter ihnen saßen – in dieser Reihenfolge – die Vertreter der Schriftgelehrten, Hausbauer, Ärzte und Krieger.
Ich stellte fest, daß Torm nicht zu den Vertretern der Schriftgelehrten gehörte, und lächelte. »Ich bin zu praktisch veranlagt«, hatte Torm gesagt, »um mich mit den unnützen Dingen des Regierens zu beschäftigen.«
Angenehm fiel mir auf, daß meiner eigenen Kaste, der Kaste der Krieger, der geringste Status zukam; wenn es nach mir gegangen wäre, hätten die Krieger überhaupt nicht zu den Hohen Kasten gezählt. Andererseits hatte ich sehr viel dagegen einzuwenden, daß die Kaste der Wissenden den Ehrenplatz einnahm, da sie mir noch mehr als die Soldaten unproduktive Mitglieder der Gesellschaft zu sein schienen. Die Krieger boten der Stadt wenigstens ihren Schutz, während die Wissenden allenfalls Heilung von Krankheiten und Plagen zu bieten hatten, die sie weitgehend selbst suggeriert hatten.
In der Mitte des kreisförmigen Saals erhob sich eine Art Thron, auf dem in seiner Staatskleidung – einem einfachen braunen Umhang – mein Vater saß, Administrator Ko-ro-bas, einst Ubar, Kriegsherr der Stadt. Zu seinen Füßen lagen ein Helm, ein Schild, ein Speer und ein Schwert. »Tritt vor, Tarl Cabot«, sagte mein Vater, und ich stand vor seinem Thron und spürte die Blicke aller Anwesenden auf mir ruhen. Hinter mir wartete der Ältere Tarl, dem nichts von der vergangenen Nacht anzumerken war.
Der Ältere Tarl ergriff das Wort: »Ich, Tarl, Schwertkämpfer Ko-ro-bas, gebe mein Wort, daß dieser Mann geeignet ist, Mitglied der Hohen Kaste der Krieger zu werden.«
Mein Vater antwortete ihm nach dem festgelegten Rituaclass="underline" »Kein Turm in Ko-ro-ba ist stärker als das Wort Tarls, des Schwertkämpfers unserer Stadt. Ich, Matthew Cabot von Ko-ro-ba, akzeptiere sein Wort.«
Von der unteren Bank an aufwärts stand nun jedes Ratsmitglied auf, nannte seinen Namen und erklärte, daß er auch seinerseits das Wort des blonden Schwertkämpfers anerkenne. Als alle fertig waren, überreichte mir mein Vater die Waffen, die vor dem Thron gelegen hatten. Um meine Schulter legte er das Stahlschwert, befestigte an meinem linken Arm den runden Schild, drückte mir den Speer in die rechte Hand und senkte langsam den Helm auf meinen Kopf.
»Wirst du den Kodex der Krieger einhalten?« fragte mein Vater.
»Ja«, sagte ich.
»Welches ist dein Heimstein?« fragte mein Vater.
Ich ahnte, welche Antwort von mir erwartet wurde, und antwortete: »Mein Heimstein ist der Heimstein Ko-ro-bas.«
»Und dieser Stadt verpfändest du dein Leben, deine Ehre und dein Schwert?« fragte mein Vater.
»Ja«, sagte ich.
»Dann« fuhr mein Vater fort und legte mir feierlich die Hände auf die Schultern, »erkläre ich dich hiermit in meiner Eigenschaft als Administrator dieser Stadt in Gegenwart des Rates der Hohen Kasten zum Krieger von Ko-ro -ba.«