Als er sich neben den Vogel kniete, wichen die anderen zurück und sahen ihn aus verwunderten Knopfaugen an. Blut hatte das helle Gefieder des Pinguins dunkel verfärbt. Er hatte eine große Wunde an der einen Flanke und offenbar konnte er den Flügel auf dieser Seite nicht bewegen. Es sah aus, als hätte jemand etwas nach ihm geworfen. Einen der scharfkantigen Steine, die hier herumlagen.
»Aber wer?«, wisperte Jonathan. »Wer hat das getan? Weshalb?«
Behutsam hob er den Pinguin hoch und hielt ihn im Arm wie ein Kind. Die blanken Augen des Vogels fanden seine und er las eine Bitte darin: Hilf mir, bat der Pinguin. Es war ein höflicher Pinguin. Wenn du mich hier liegen lässt, werde ich sterben. Es macht nichts aus, denn überall sterben Tiere, jeden Tag, es gehört dazu. Aber mir persönlich würde es doch etwas ausmachen.
»Natürlich«, flüsterte Jonathan. »Natürlich helfe ich dir. Vielleicht gibt es auf der Mariposa etwas, um die Wunde zu säubern. Alkohol. Und Verbandszeug. Ich werde José fragen. Ich …«
Der Pinguin drehte den Kopf und sah aufs Meer hinaus, und Jonathan folgte seinem Blick.
Dort näherte sich vor der sinkenden Sonne von Westen her ein Schiff. Es war größer als die Mariposa, und obwohl er die Farbe nicht genau erkennen konnte, schien es ihm grau. Militärgrau. Jonathan duckte sich instinktiv hinter einen Felsbrocken.
Der Militärsegler glitt jetzt elegant und lautlos in die Bucht hinein, die Segel wurden eines nach dem anderen heruntergenommen und ein Motor sprang an. Das Schiff steuerte direkt auf die ankernde Mariposa zu. Im letzten Moment riss jemand auf dem großen Schiff das Steuer herum und es legte sich längs, Flanke an Flanke mit dem kleinen honiggelben Boot.
War José dort? War er wieder an Bord?
Jonathan sah, wie ein Mann von dem großen Schiff auf die Mariposa hinüberstieg. Er hörte Stimmen, sah den Mann in der Kajüte verschwinden und nach einer Weile wieder auftauchen, um zurück auf den großen Segler zu klettern. Gleich darauf ankerte das Schiff wenige Meter von der Mariposa entfernt. Zwei Männer wateten an Land. Sie gingen über den Strand hinauf, dorthin, wo die ersten, niedrigen Büsche standen.
»Sie suchen etwas«, flüsterte Jonathan. »Sie suchen jemanden. Jemanden, den sie auf der Mariposa nicht gefunden haben. Sie suchen José.«
Aber wo war José? Jonathan konnte ihn am Strand nirgends entdecken. Versteckte er sich zwischen den duftenden Balsambäumen, irgendwo im Schatten, unsichtbar geworden, eins mit der Dämmerung? Wusste er, dass jemand ihm folgte? Jonathan schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Und er merkte, dass er Angst hatte. Angst, dass die Männer José fanden.
Er wartete lange mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen, und schließlich hörte er die Stimmen der Männer ganz nah, hörte ihre Schritte vor seinem Felsen über den Strand gehen. Sie sprachen englisch, aber einer, der so weit gereist ist, versteht auch Englisch. Einer, in dessen Pass steht, dass er in London geboren wurde, sollte Englisch verstehen.
»… machen, dass wir hier wegkommen«, sagte der eine. »Das Schiff aus der Bucht schaffen. Es ist gleich dunkel. Du weißt, was bei Einbruch der Dunkelheit passiert.«
»Wir hätten ihnen sagen sollen, dass wir hier sind … Wir sind zu überstürzt aufgebrochen … Über Funk kriege ich keinen rein. Wer konnte auch ahnen, dass er ausgerechnet nach Bartolomé fährt?«
»Wir. Wir hätten es ahnen können. Es ergibt Sinn.«
»Ja. Eine Menge ergibt jetzt Sinn. Lass uns irgendwo draußen auf ihn warten, vor der Bucht. Er sitzt in der Falle hier. Spätestens morgen früh haben wir die Karte in der Hand. Und dann hat es ein Ende mit der Reise der Mariposa. Mariposa! Was für ein harmloser Name, verglichen mit …«
Die Stimmen entfernten sich, und als Jonathan wieder wagte, seinen Kopf hinter dem Felsen hervorzustrecken, wateten die Männer bereits ins Wasser zurück. Sie trugen die Uniformen der US-Marine. Er hatte noch nie jemanden so rasch waten sehen.
Etwas würde auf Bartolomé geschehen, wenn die Sonne unterging, etwas, das man besser nicht miterlebte. Kurz darauf legte das Schiff der Amerikaner ab, ohne Segel zu setzen. Als das Dröhnen des Motors die Bucht verließ, wurde es sehr, sehr still. Die schwarze Nadel des Pinnacle Rock ragte in die Stille wie eine stumme Warnung.
Jonathan stand auf, den Pinguin noch immer auf dem Arm. Mit einem Mal verstand er, warum die Stille so still war. Die Pinguine waren nicht mehr da. Sie mussten allesamt ins Wasser getaucht und geflohen sein. Wovor geflohen?
Es war etwas, das schon häufiger passiert war, immer zur gleichen Zeit, etwas, an das sie sich hatten gewöhnen können.
Jonathan ließ seinen Blick über die Insel schweifen, suchend. Und er entdeckte eine kleine Gestalt, die über den Strand auf ihn zukam. José. Er winkte, aber er sah nicht aus, als hätte er es eilig. Er hatte das Gespräch der Amerikaner nicht gehört.
Denk!, befahl Jonathan sich selbst. Denk, denk, denk! Rascher!
Er sah den verletzten Pinguin an, dachte an den Stein und plötzlich sah er noch etwas. Mehr Steine. Überall verstreut lagen Stücke von Felsen, harte, kantige Stücke, die das Wasser nicht glatt geschliffen hatte. Diese Felsbrocken waren neu. Sie wirkten wie … abgesprengt.
In seinem Kopf tauchten Worte auf: Baltra. Die Amerikaner. Die Militärbasis.
Dann formte sich in der Stille ein hoher Ton, weit, weit fort – mehr die Ahnung eines Tons. Er schmerzte in den Ohren und schwoll langsam an. José war jetzt ganz nah.
Er winkte noch einmal.
Und in diesem Moment begriff Jonathan etwas.
Er hielt den Pinguin ganz fest und rannte los. Nie war er schneller gerannt. Er flog über die spitzen Steine, er spürte nicht, wie ihre Kanten seine bloßen Füße ritzten. Der Ton wurde lauter und lauter und lauter und LAUTER, eine Art seltsames Heulen in der Luft, näher und näher … Jonathan erreichte José mit einem letzten Satz, dort, wo der Felsen in Strand überging. Er riss ihn mit sich zu Boden, und als sie nebeneinander im Sand lagen, drückte er Josés Kopf in den Sand und schützte mit seinem Körper den Pinguin.
Hinter ihnen explodierte die Welt.
Lied der Landleguane
Ich weiß es ja, es ist nicht galant,
so aus dem Busch aufzutauchen.
Aber hätten Sie wohl etwas Proviant,
den Sie nicht mehr brauchen?
Ich weiß, Sie haben aus Büchern erfahren,
ich fräße die Blüten der Baumkakteen.
Mag sein, doch ich frage mich seit Jahren:
Muss denn das in den Büchern stehn?
Ich nehme jede Art von Essen:
ein Butterbrot, falls es genehm ist?
Weil auf Bäume zu klettern, um Blüten zu fressen,
auf Dauer doch unbequem ist.
Sie finden mich faul? Dann besteh ich drauf,
dass Sie mehr Fleiß beweisen.
Klettern Sie doch einen Kaktus hinauf,
um zu Abend zu speisen!
Ich denke praktisch, zählt das nicht?
Ich lege mein Gelege
zum Bebrüten ins Sonnenlicht
und gehe meiner Wege.
Ihre Ahnen, das ist lange her,
haben die meinen gegessen!
Da wäre es doch jetzt nur fair,
Sie gäben mir Ihr Essen …
El fin del paraiso
Das Ende des Paradieses
Es regnete Felssplitter. Irgendwo fiel etwas ins Wasser.