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Jonathans Hand zitterte, als er das Steuer übernahm. Es war wahrscheinlicher, dass er das Schiff gegen die Felsen steuerte. Doch José war schon nach vorn geklettert, um die Taue der Segel zu lösen. Als sie am ersten der Felsen vorüber waren, ließ er das Großsegel herunter und rief etwas, das Jonathan nicht verstand, aber er riss das Ruder herum. So glitt die Mariposa mitten zwischen die Felsen. Sie streifte einen von ihnen, ein hässliches Schaben ertönte, einen Moment später hatte José das Vorsegel eingerollt und den Anker geworfen. Die Mariposa ruckte einmal an der Ankertrosse und stand, zitternd wie ein Pferd nach einem Wettlauf.

José kletterte zurück nach hinten und eine Weile saßen er und Jonathan ganz still nebeneinander. Sie sahen die Roosevelt nicht mehr, zwei der hohen Felsen lagen jetzt zwischen ihnen und dem offenen Wasser.

Es wird nichts nützen, dachte Jonathan. Es ist ein schlechtes Versteck. Es gibt keine guten Verstecke für eine ganze Jacht, nicht einmal für eine so kleine Jacht wie die Mariposa …

»Jonathan!«, flüsterte José und zeigte auf eine Lücke zwischen den Felsen. »Sie … sie fahren vorüber! Sie fahren einfach weiter!«

Josés Augen glänzten in der Dunkelheit. Es schien ihm direkt Spaß zu machen, verfolgt zu werden. In der Ferne wurde die Roosevelt kleiner und kleiner und schließlich verschluckte die Nacht sie ganz.

In dieser Nacht träumte Jonathan wieder von Hamburg. Die Träume ließen ihn nicht los, sie brachten die Vergangenheit zurück, sobald er schlief.

Im Traum blickte er in Frau Adams Gesicht. Sie hatte sich über ihn gebeugt und er hörte sie Worte flüstern. »Armes, armes Kleines«, flüsterte sie. »Mein armes Kleines!«

Ihr Haar war bedeckt mit weißem Staub. Er fuhr mit der Hand durch sein Gesicht und auch in seinem Gesicht war Staub. Staub und Blut. Da war eine Wunde an seiner Stirn. Sie brannte und ein dumpfer Schmerz pochte hinter seinen Schläfen.

»Mein armes Kleines!«, wiederholte Frau Adam. »Gut, dass du wieder zu dir kommst. Das mit der Lampe tut mir leid. Ich musste dich … außer Gefecht setzen. Du warst drauf und dran, die Tür zu öffnen und uns alle in den Tod zu reißen. Drauf und dran …«

Er drehte den Kopf. Er befand sich nicht mehr im Luftschutzkeller. Er befand sich in einer fremden Wohnung. Stimmen schwirrten ziellos umher. Jemand weinte. Die Luft roch verbrannt. Jonathan kam auf die Beine und fand ein Fenster, dessen Verdunkelung bereits entfernt worden war, um den Morgen einzulassen. Er kannte die Straße, die er sah. Sie befand sich nicht weit von seiner eigenen Straße entfernt.

»Wir sind bei meiner Schwester«, sagte Frau Adam. »Richard hat geholfen, dich herzutragen. Obwohl es überall noch gebrannt hat. Du hast dich ja nicht gerührt, nicht wahr … Das Haus – unser Haus –, es steht nicht mehr. Es ist ausgebrannt. Wir hatten Glück.«

Jonathan drehte sich um und sah, dass sie mit einer Hand ihre Stehlampe umklammerte. Sie hatte sie also mitgenommen. Die Stehlampe war alles, was vom Haus Nummer 19 geblieben war. Und dann erinnerte er sich wieder an seinen Kampf mit Richard, an die Tür des Luftschutzkellers, an das Beben des Bodens; an alles.

Vor allem an ein Lächeln in der Nacht, Mamas Lächeln.

»Halt deinen Bären gut fest«, hörte er sie wieder zu Julia sagen. »Denn jetzt rennen wir.«

Er war mit drei Schritten bei der Tür, durchquerte einen fremden Flur, hörte Frau Adam hinter sich rufen – rannte durch eine fremde Haustür in einen fremden, verbrannten Morgen hinaus und bog kurz darauf in seine eigene Straße ein. Doch es war nicht mehr seine Straße. Er blieb stehen. Die Häuser hatten sich in schwarze Gerippe verwandelt. Manche besaßen noch Mauern. Bei einem konnte man in die Zimmer hineinsehen, weil die Vorderwand fehlte. Schließlich stand er vor den schwelenden Resten des Hauses Nummer 19. Der Eingang zum Luftschutzkeller von Nummer 21 war halb von Steinbrocken zugeschüttet. Und mitten zwischen den Steinen lag etwas. Etwas Rotes. Ein rotes Band. Jonathan bückte sich und zog daran. Dann hielt er einen Teddybären in den Händen, einen staubigen, dreckigen Teddybären mit einer roten Schleife um den Hals. Da war noch etwas, etwas aus kariertem Stoff. Eine alte Schiebermütze.

Aber niemand mehr, der sie aufsetzen konnte. Und niemand, der den Bären an sich drückte.

Er hielt ihn fest und ging langsam hinüber zu Nummer 19. Stieg über Mauerreste in die Ruine, die kein Haus mehr war. Der beißende Rauch, der noch immer von den verkohlten Balken aufstieg, ließ seine Augen brennen. Doch er weinte nicht.

Jemand sagte seinen Namen. Er drehte sich um. Mitten in der Ruine stand Richard, groß, blond, noch immer in Uniform. Rußverschmiert.

»Es ist gefährlich, die Häuser zu betreten«, sagte er. »Alles, was hier noch steht, kann jederzeit einstürzen. Wir haben Anweisung, Frauen und Kinder davon abzuhalten, die Ruinen zu durchsuchen.« Richard trat einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn am Arm, sanft diesmal, als müsste er ihn festhalten. Ihn beschützen. Er war Jonathan zu nah. Sein Atem war warm. »Es tut mir leid«, wisperte er. »Das mit deiner Mutter und deiner Schwester.«

Das war der Moment, in dem Jonathan verschwand.

Die Person, die eine kleine Schwester namens Julia und eine Mutter im Haus Nummer 19 gehabt hatte, machte sich ganz klein und verkroch sich, weit, weit fort vom Licht des Morgens und von Frau Adams Mitleid und Richards Atem. An einem Ort, wo niemand sie finden konnte, tief im Inneren einer Hülle.

Die Hülle hatte die Form einer Person mit einem Teddybären und einer alten Mütze in der Hand. Aber wirklich nur die Form. Richard half dem, was er für jene Person hielt, über die halb eingestürzte Mauer, und als Jonathan stolperte, streiften Richards Lippen wie zufällig seine Wange. Aber für einen Zufall verharrten sie etwas zu lange dort, pressten sich an ihn …

»Jonathan!«

Er öffnete die Augen. Es waren nicht Richards Lippen, die sich an seine Wange pressten. Es war ein Pinguin. Jonathan lag zusammengerollt auf dem Kajütendach der Mariposa, und Oskar war ihm offenbar gefolgt, um in seiner Halskuhle zu schlafen. Über ihnen stand José und schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?«

»Ich … habe geträumt«, sagte Jonathan und setzte sich auf. »Manchmal gehe ich im Traum irgendwohin. Wie in der Nacht, als du mich aus dem Wasser gezogen hast. Da bin ich im Traum über Bord geklettert.«

José nickte langsam. »Jetzt habe ich wenigstens eine Antwort auf meine tausend Fragen.«

»Wenn wir gerade dabei sind, kann ich die anderen auch beantworten«, sagte Jonathan und streichelte Oskar. »Sie sind tot.«

»Wie bitte?«, fragte José.

»Das wolltest du doch wissen. Wo meine Eltern sind. Es war ein Bombenangriff, nachts. Die Stadt hat gebrannt …«

»London«, sagte José.

»Ja«, sagte Jonathan. War es nicht egal, ob es London oder Hamburg gewesen war? Wo lag der Unterschied? »Sie haben es nicht mehr in den Keller hinuntergeschafft. Nur ich war dort unten. Sie waren draußen. Meine Mutter und meine kleine Schwester. Julia.« Er griff in seine Tasche und legte eine alte Mütze und ein Stück rotes Band vor José aufs Kajütendach. »Das ist alles, was von ihnen übrig geblieben ist. Die Mütze … gehörte meinem Vater. Aber meine Mutter hatte sie in der Nacht auf. Und das rote Band gehörte Julias Teddybären. Später, auf unserer Reise, ist es abgegangen, deshalb habe ich es in der Tasche. Der Teddybär ist vermutlich noch bei Wa… bei Smith.«

»Bei wem?«

»Smith. Er hat mich rausgeholt. Aus Ha… aus London.«

»Ist er … ein Freund deiner Eltern?«

»Nein«, sagte Jonathan schroff. »Der Bruder meiner Mutter. Sie haben schon ein paar Jahre lang nicht miteinander geredet. Nur … früher. Meine Mutter, weißt du, sie hat immer von den Galapagosinseln gesprochen. Sie wollte so gern hierher auswandern. Es war nur ein Traum. Und dann ist sie gestorben und der Traum war zu Ende geträumt. Aber eines Tages stand ihr Bruder vor der Tür. Vor der Tür von Frau Adams Schwester, bei der ich wohnte. Und er sagte: Wir fahren. Einfach so, ganz plötzlich. Wir fahren zu den Galapagosinseln, M… Jonathan, genau so, wie deine Mutter es sich gewünscht hat. Niemand hat geglaubt, dass er es ernst meint. Es war zu verrückt. Aber hier bin ich: auf den Galapagosinseln.«