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Jonathan war sich jetzt sicher, dass sie die Mariposa in ihrem Versteck nicht gesehen hatten. Aber vielleicht hatten sie etwas anderes gesehen. Vielleicht hatten sie José gesehen, wie er im Unterholz verschwunden war.

Die Hitze im Inneren der Insel umgab José wie ein lebendiges Wesen. Sie waberte zwischen den niedrigen Büschen und Farnen umher, schloss ihn ein und setzte sich auf ungewohnte Weise in seine Lungen. Schon zwei Tage auf dem Wasser hatten ihn die Hitze beinahe vergessen lassen.

Während der letzten Monate hatte sich die graue Geisterlandschaft der Küsten in einen großblättrigen Streifen niedrigen Grüns verwandelt, aber es wuchsen nur wenige Bäume darin, die Schatten spendeten. Er sah zum Himmel. Der Regen blieb seit zwei Wochen aus.

Die Wolken, die in den letzten Nächten das Mondlicht gestohlen hatten, waren weitergezogen, ohne abzuregnen. José dachte an die Farm zu Hause und an Mama Carmelita, die ebenfalls auf den Regen wartete. Dann dachte er an die Wasserkanister auf der Mariposa. Wenn es nicht mehr regnete, würde das Wasser nicht ausreichen. Nicht für zwei Leute …

Es raschelte vor ihm im Gebüsch und er blieb stehen. Ein Leguan tauchte aus den Sträuchern auf, reckte den gelben Kopf und sah José erwartungsvoll an, wie ein Hund, der auf ein Stück Wurst hoffte. José lächelte erleichtert. »Ich habe nichts für dich«, sagte er. »Ich kenne euch Bettler von zu Hause. Verschwinde!«

In diesem Moment raschelte es wieder, näher diesmal, und eine panische Explosion aus bunten Federn brach neben José aus dem Unterholz. Etwas war durch den Wald unterwegs, etwas Großes, das die anderen Tiere erschreckte. José sah sich um. Er musste ein ganzes Stück gestiegen sein. Hier gab es mehr Grün, lange Bartflechten bedeckten die Guavenbäume. Zwischen den bemoosten Stämmen raschelte es noch einmal. Was da raschelte, befand sich hinter einem dichten Gestrüpp voll weißer Blüten. »Schicksalsbäume« hießen die Pflanzen bei den Leuten von den Inseln. José nahm das Gewehr von der Schulter.

Vorsichtig teilte er die Zweige und pirschte sich hindurch, das Gewehr im Anschlag. Was da vor ihm Äste brach und Blätter zertrat, besaß die ungefähre Größe und Höhe eines Menschen. War einer der Siedler von der anderen Seite der Insel hier im Wald unterwegs?

Nein, sagte sich José, vermutlich handelte es sich um ein Tier. Ein Tier, das er schießen konnte. Er schlüpfte unter den letzten weiß blühenden Zweigen hindurch und stand auf einer Lichtung. Schwarze Lavafelsen säumten sie, überwuchert von den grünen Ranken und den faustgroßen duftenden Blüten einer Passionsblume. Und mitten auf der Lichtung stand das, was geraschelt hatte, und sah José entgegen.

Jonathan wartete lange auf José.

Er fand einen Eimer unter Deck und füllte ihn mit Meerwasser, um den Kaffeetopf und die beiden Suppenlöffel zu waschen. Und wartete. Er ordnete die Dosen auf den Regalen der Größe nach. Und wartete. Er wechselte Oskars Verband. Und wartete. Ab und zu warf er einen nervösen Blick zur Roosevelt hinüber, doch auch sie wartete vergeblich darauf, dass ihre Besatzung zurückkam. Die Sonne schien warm auf das Deck der Mariposa. Irgendwann döste Jonathan ein, und die Träume von der Vergangenheit, die ihn nicht losließen, hatten ihn wieder.

Er träumte von seiner Mutter. Sie saß zu Hause, in Hamburg, in dem großen alten Ohrensessel, und draußen schneite es deutschen Schnee. Es roch nach Zimt. Er und Julia saßen auf dem Sofa und lauschten den Wörtern, die Mama vorlas: langen komplizierten Wörtern – den Namen von Tieren und Pflanzen, die es nur auf den Galapagosinseln gab. Ihre Augen leuchteten bei jedem dieser Namen. Schließlich klappte sie das Buch zu. »Die Zimtsterne brennen an«, sagte sie. »Aber eines Tages, das versprech ich euch, backen wir Zimtsterne auf den Galapagosinseln. Eines Tages fahren wir dorthin und bauen uns dort ein Haus und vor der Tür blühen die Orangenbäume …«

Ehe Jonathan geboren worden war, hatte Mama Biologie studiert. Es gab nicht viele Frauen, die studierten, und die wenigen heirateten gewöhnlich irgendwann und hörten dann damit auf. Aber eigentlich hatte Mama nie aufgehört zu studieren. Sie hatte Bücher gelesen, Bücher und Bücher und Bücher, und am meisten liebte sie jene Bücher über die Galapagosinseln. Ihr alter Dozent war dort gewesen, Professor Blumenhaus. Jonathan kannte ihn nicht. Irgendwann war er aus Hamburg verschwunden, und Mama stellte sich gern vor, er wäre auf die Inseln ausgewandert.

»Wisst ihr noch, Blumenhaus’ Schmetterling?«, fragte sie, während sie das Blech mit den Zimtsternen aus dem Ofen zog. »Der Schmetterling, den er immer finden wollte?«

»Ja!«, rief Julia und hopste in der Küche auf und ab. »Er ist blau mit goldenen Punkten!«

»Richtig.« Mama nickte. »Professor Blumenhaus hat immer gesagt: Alle reden von den Echsen und den Seehunden auf den Galapagosinseln, aber niemand hat sich je mit den Schmetterlingen befasst. Er wollte der Erste sein. Er wollte den blauen Schmetterling mit den goldenen Flecken fangen, den er dort gesehen hatte. Er ist in keinem Buch erwähnt. Stellt euch vor, eines Tages stelle ich ein Blech mit Zimtsternen vor unsere Inselhütte und der blaue Schmetterling kommt angeflogen und setzt sich darauf …«

»Kann mein Bär mit auswandern?«, fragte Julia. »Er mag Schmetterlinge.«

»Sicher«, sagte Jonathan. »Wir wandern alle zusammen aus. Du und dein Bär und Mama und Papa und ich.«

Als Jonathan aufwachte, sah er noch eine Weile Mamas Inselhütte vor sich, zwischen den Orangenbäumen, und er musste lächeln. Natürlich war es nur ein dummer Traum gewesen, eine Seifenblase, und dann war der Krieg gekommen. Und Papa war eingezogen worden, er war in ein Flugzeug gestiegen und aus Frankreich nicht zurückgekehrt. »Vermisst«, sagten sie. »Er wird vermisst.« Und natürlich vermissten sie ihn. Aber eigentlich bedeutete es, dass er tot war, mausetot und kalt lag er irgendwo in Frankreich in der Erde, und das wusste sogar Julia.

Jonathan schüttelte die Gedanken an seine Familie ab. Die Sonne war ein gutes Stück weitergerückt. Wo war José?

Auch das große Schiff der Amerikaner lag nach wie vor verlassen an seinem Felsen. Aber der Felsen lag nicht mehr verlassen. Darauf hatte sich eine Gruppe Flamingos versammelt, die Hälse hinabgereckt, als wollten sie mit ihren gebogenen Schnäbeln den Stein glatt schleifen. Dann wurde ihm klar, dass sich Salzwasser in großen Pfützen auf dem Felsen gesammelt haben musste. Mama hatte ihm erzählt, dass Flamingos von winzigen Krebsen lebten, die sie aus dem Wasser filterten. »Wenn du sie sehen könntest!«, flüsterte er. »Wenn du sie nur …«

In diesem Moment hallte ein Schuss von der Insel her.

Jonathan lag auf dem Boden der Mariposa, ehe er überhaupt begriff, dass er sich hingeworfen hatte. Ein zweiter Schuss folgte. Ein dritter. Dann war es still.

So still wie auf Bartolomé, ehe die Rakete einschlug.

Er spürte Oskars weichen Körper, der sich Schutz suchend an ihn drückte.

»Ein Paradies«, wisperte er. »Waterweg hat gesagt, die Galapagosinseln sind ein Paradies, weit weg vom Krieg. Aber er hat sich getäuscht.«

Lied der Flamingos

Hälse biegen, Federn schütteln,

Köpfe wiegen, Flügel rütteln,

Zehen treten, Schlamm aufwirbeln,

Hälse jetzt zu Knoten zwirbeln,

rosa rosa rosa rosa

rosa rosa rot.

Köpfe strecken, Schnäbel senken,

Flügel recken, Hals verrenken,

Wasser filtern, Algen finden,

Zunge rollen, Zunge winden,

rosa rosa rosa rosa

wie ein Wolkenboot.