»Oh«, sagte er, »ich muss die Kajütentür offen gelassen haben. Das Abwaschwasser wollte ich eigentlich auch noch auskippen …«
Er half José hoch, und da sah auch er das merkwürdige Bild, das sich ihnen in der Kajüte bot. Unter dem Tisch stand ein Eimer Wasser mit einem badenden Pinguin darin. Den Geschirrlappen hatte der Pinguin aus dem Eimer hinausbefördert, und er war auf der Schwelle der Kajütentür gelandet, wo er sich verklemmt hatte, als die Tür vom Wind zugeschlagen worden war.
Auf dem Tisch stand der Topf mit den Resten der Krabbensuppe. Und daneben stand ein Flamingo. Er hatte den schlanken Hals gebeugt und steckte mit dem krummen Schnabel in der Suppe. Offenbar war er dabei, sie zu filtern. Und er sah aus, als schmeckte ihm, was er fand. Als er die beiden Jungen sah, hüpfte er vom Tisch und stakste umständlich die vier Stufen von der Kajüte hoch an Deck.
»Besser, du fliegst weg«, sagte Jonathan. »Deine Leute sind auch nicht mehr da. Aber du weißt sicher, wo sie hingeflogen sind.«
Der Flamingo flog aufs Kajütendach und sah sich um. José hatte in seinem Leben eine Menge Flamingos gesehen. Sie brüteten in der Nähe des Hafens von Villamil, auf Isabela. Aber nie hatte er einen gesehen, der so ratlos wirkte.
»Ich glaube, er hat keinen blassen Schimmer«, meinte Jonathan. »Wo sie hingeflogen sind, meine ich.«
»Dann … soll er irgendwohin fliegen!«, rief José. »Ksch! Weg! Hau ab!«
Aber die große blaue Weite des Himmels über dem Pazifik, an dem nirgendwo ein Schwarm seiner Artgenossen zu sehen war, schien dem Flamingo mehr Angst einzujagen als dieser nasse Mensch, der mit den Armen fuchtelte. Er schüttelte sich und kehrte zurück unter Deck, um weiter Suppe zu filtern.
José seufzte. »Wir sind doch nicht die Arche Noah!«
Jonathan lachte. »Die Mariposa hat inzwischen eine stattliche Besatzung, was? Ein Flamingo, der nicht fliegen will, ein Pinguin, der nicht mehr schwimmen kann, und eine Ratte, die nicht an Land gehen möchte. Und der Einzige, der das Boot segeln kann, hat eine Gehirnerschütterung.«
»Nein.« José schüttelte langsam den Kopf.
»Nein?«
»Ich bin nicht der Einzige, der die Mariposa segeln kann. Du wirst sie segeln. Du musst es tun. Ich schaffe es nicht.«
Sie teilten sich eine Dose mit kaltem Rindfleisch und öffneten eine mit Fisch für Oskar, und dann erklärte José Jonathan, was er mit Tauen und Segeln zu tun hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, aber schließlich fing sich der Wind in den Segeln der Mariposa, und sie glitt sacht über die Wellen, fort von Santiagos Küste. José hatte Jonathan auch den Kompass erklärt, der über der Kajütentür in einer großen Glaskugel eingelassen war und mit dem Boot schwankte, aber er wusste nicht, ob Jonathan verstanden hatte, wie man danach steuerte. Es war ihm egal. Als die ersten größeren Wellen nach der Mariposa griffen, erbrach er sich über die Reling, und danach legte er sich auf die schmale Backbordbank und versuchte, nicht daran zu denken, wie verquer alles war.
»Der Wind, weißt du?«, sagte Jonathan. »Er hat gedreht. Wenn die Mariposa in ihrem Versteck geblieben wäre, hätte er sie gegen einen der Felsen gedrückt. Ist es nicht merkwürdig, dass sie sich selbst gerettet hat?«
»Hmm«, machte José.
Sich selbst gerettet, was?, höhnte die Abuelita in seinem Kopf. Unsinn! Das Schiff eines Toten rettet sich nicht selbst. Hast du die Unaussprechlichen schon vergessen, die in der Tiefe wohnen? Er hat sie gerufen. Er ist noch an Bord, der tote Segler. Er liebt sein Schiff genau wie zu seinen Lebzeiten, er lässt es nicht im Stich. Behandelt es nur gut, das Honigboot! Wer sein Schiff so liebt, dass er es noch nach seinem Tod bewacht, mit dem ist nicht zu spaßen …
»Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod?«, murmelte José. »Abuelita, du hast sie nicht mehr alle. Und jetzt verschwinde aus meinen Gedanken und lass mich schlafen, ja?«
»José?«, fragte Jonathan. »Schläfst du? Du kannst jetzt nicht schlafen! Ich weiß nicht, wie … José?« José rührte sich nicht. Sicher, er brauchte Ruhe. Aber Jonathan brauchte ihn. Er betrachtete die schlafende Gestalt eine Weile, betrachtete das schwarze Haar, das seitlich von Blut verklebt war. Es war nur eine Platzwunde und darunter begann sich eine ansehnliche Beule zu bilden. Würde ein Streifschuss eine solche Wunde verursachen? Eigentlich nicht, dachte Jonathan. Jemand hatte José einen schweren, stumpfen Gegenstand über den Kopf gezogen. Etwas wie den Fuß einer Stehlampe.
Aber er hatte jetzt über Wichtigeres nachzudenken. Wie sollte er allein ein Schiff durch die Unendlichkeit des Pazifiks steuern?
Natürlich war er nicht allein. Neben ihm auf der seitlichen Bank saßen Oskar und der Flamingo, und Carmen war damit beschäftigt, ein Tau anzunagen. Jonathan hoffte, dass es kein wichtiges Tau war.
»Hör mal, Flamingo«, sagte Jonathan, »ich werde dich Eduardo nennen. Ist dir das recht?«
Der Flamingo antwortete nicht. Auch unter dem Namen Eduardo war er keine große Hilfe beim Steuern eines Schiffs. Wenn nur der Wind nicht zunahm! Solange alles so blieb, wie es war, genügte es, das Steuer festzuhalten und darauf zu achten, dass der verwirrend bewegliche Kompass in der gleichen Stellung blieb. Bei der kleinsten Bewegung der Mariposa schwappte er in seinem Glasgehäuse umher wie ein eigenes Meer und Jonathan wurde ganz übel vom Hinsehen. Und er fror. Plötzlich merkte er, wie sehr er fror.
Der Tag sank schon auf den Horizont zu. Sie hatten beide gehofft, dass die Sonne ihre nassen Kleider bis zum Abend trocknen würde, doch sie hatte es nicht ganz geschafft. Und jetzt kam die Nacht, die lange, kalte, windige Nacht, in der es keine Positionslichter geben würde, schon deshalb nicht, weil Jonathan nicht wusste, wie man sie anzündete.
Und auch José schlief in seinen feuchten Sachen.
Er besaß eine zweite Garnitur Kleidung im Rucksack. Und da waren die alten Kleider unter Deck, von denen er Oskars Verband abgerissen hatte. Jonathan hakte das Steuerruder fest. »Tu es nur, wenn es nicht anders geht«, hatte José gesagt. »Nur, wenn der Wind es erlaubt. Und nur ganz kurz, hörst du?«
Er beeilte sich, in die Kajüte hinabzukommen, und öffnete Josés Rucksack. Diesmal spürten seine Hände auf dem Boden des Rucksacks Papier. Die Karte. Nein, er hatte jetzt keine Zeit, sie sich anzusehen. Die Kleider, die er in den Händen hielt, waren steif vom Salzwasser. In diesen Sachen war er über Bord gesprungen. Wie lange das her zu sein schien!
Er fragte sich, ob er es noch einmal tun würde. Er würde José bis zur Isla Maldita begleiten, so viel war klar … aber was war dann? Würde er dann ins Meer zurückkehren, in den Tod, zurück zu seiner Familie? Er war sich nicht mehr sicher.
Er kletterte wieder an Deck, kontrollierte den Kurs und kam sich beinahe schon vor, als könnte er tatsächlich segeln. Oskar, Eduardo und Carmen beobachteten ihn, während er José mühsam seinen nassen Kleidern entwand.
Einen Moment lang betrachtete er den Körper vor sich. Von Nordwesten zogen Wolken herauf wie in den Nächten zuvor, doch noch schien der Mond. Auf Josés Oberkörper prangten mehrere dunkle Blutergüsse. Was war auf Santiago geschehen? Wer hatte ihn – und womit – verprügelt? Wie still er dalag! Jonathan legte eine Hand auf seine Brust, spürte Josés Herzschlag und atmete auf. Eine Weile ließ er die Hand dort liegen. Es tat gut, das Leben zu fühlen, das warme Leben eines anderen Menschen in der weiten, stillen Nacht. Beinahe fror Jonathan nicht mehr. Aber auf Josés Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet und er zitterte im Schlaf. Jonathan beeilte sich, ihm die trockenen Kleider überzuziehen. Dann schleifte er ihn die Stufen hinunter, bettete ihn auf eine der Bänke und breitete die Wolldecke über ihn. Es war ein Wunder, dass er von all dem Geziehe und Gezerre nicht aufwachte.