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Und dann setzte er eine Flasche an Josés Lippen. Wasser! José trank gierig, trank sich voll mit Leben, und sein Kopf wurde klarer. Zu klar für einen Traum.

»Ich träume gar nicht«, sagte er. »Sie sind wirklich hier.«

Casaflora nickte. »Ja, ich bin hier, mein Junge. Aber ich werde die Schnur um deine Hände nicht durchschneiden. Waterweg wüsste, wer es getan hat. Ich bin alt, aber vorläufig habe ich keine Lust, von ihm erschossen zu werden.«

»Wie alt sind Sie?«, fragte José.

Casaflora lachte. »Jung genug, um noch ein Weilchen zu leben.«

»Wenn der Morgen kommt und ich Waterweg nicht sage, wo die Karte ist, wird er mich erschießen.«

Casaflora zuckte die Schultern. »Sag es ihm.«

José schüttelte den Kopf. »Damit er sie findet? Damit sie doch noch in die Hände der Deutschen fällt? Bestimmt nicht. Ist … ist der Motor wieder heil?«

»Nein. Und ich weiß nicht, ob er es jemals wird.«

»Wenn alles anders wäre … dann könnten Sie mich losschneiden«, sagte José leise. »Wir könnten mit der Mariposa davonsegeln. Waterweg würde es erst am Morgen merken. Wir hätten keinen Motor, aber wir würden es irgendwie schaffen. Zur Isla Maldita auf jeden Fall.«

»Ja«, sagte Casaflora. »Wenn alles anders wäre. Aber das ist es nicht. Die Rollen sind verteilt, schon vergessen? Ich bin der böse alte Mann.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie«, bat José. »Damals, im Wald auf Santiago – waren Sie es, der mich niedergeschlagen hat?«

»Ich? Auf Santiago?« Casaflora schüttelte den Kopf. »Ich war die ganze Zeit auf der Mariposa. Ich habe sie aus den Felsen befreit, als der Wind gedreht hat, weißt du nicht mehr?«

José versuchte über die Sache auf Santiago nachzudenken, doch jetzt, wo er getrunken hatte, wurde der Schlaf übermächtig. Er hörte noch, wie Casafloras Schritte sich entfernten, dann hörte er lange nichts mehr. Als er aufwachte, bebte der Boden. Und er wusste, dass etwas auf der Insel nicht stimmte. Er sah die Leguane aus dem Busch fliehen und über den Strand zum Meer laufen, obwohl es Nacht war. Er sah die Vögel aufsteigen. Etwas würde geschehen. Bald. Zu bald.

Waterweg käme erst am Morgen wieder. Und José hatte plötzlich das bestimmte Gefühl, dass es am Morgen zu spät sein würde. Er riss noch einmal an seinen Fesseln.

Sie hielten.

Die Angst packte ihn mit eisernen Klauen.

»Abuelita«, flüsterte er. »Abuelita, wo bist du? Sag etwas! Erzähl etwas! Irgendetwas, um mich abzulenken. Wo bist du, wenn man deine Märchen einmal brauchen könnte?«

Doch die Abuelita schwieg. Es war, als wäre auch ihre Stimme von der Insel geflohen. Nie war José so allein gewesen.

Marit hatte gedacht, es wäre einfach, José wiederzufinden. Aber nachts sah alles anders aus und das Beben des Bodens verwirrte sie. Sie irrte eine ganze Weile zwischen den geduckten Gestalten der Büsche umher. War es nicht dieser Baum da vorn, an den Waterweg José gefesselt hatte? Oder eher der da drüben? Wie still es war! Beunruhigend still. Nur der Wind flüsterte ihr leise Warnungen zu. Sie wagte nicht, Josés Namen zu rufen, denn der Nachtwind wehte von der Insel fort, und er würde ihre Stimme hinaus in die Bucht tragen, wo Waterweg schlief. Schlief er noch? Oder war er ihr schon auf den Fersen?

»Nachtwind«, wisperte Marit, »hast du meinen Bruder mit fortgenommen?«

Sie hatte keine Antwort erwartet. Aber jemand antwortete, jemand, der ganz nahe war.

»Nein«, sagte er. »Der Nachtwind hat meine Schwester zu mir gebracht.«

Marit schlüpfte durch die dichten Äste, ohne ihre Dornen zu spüren. Und da saß José, genau so, wie sie ihn verlassen hatte: an einen Baumstamm gelehnt, die Hände hinter dem Rücken an den Stamm gefesselt. Er musste zu ihr aufsehen, als sie vor ihm stand. Sie sah, dass ihm das nicht gefiel.

Und sie sah, dass er Angst hatte.

»Du hast gedacht, ich komm nicht wieder, stimmt’s?«, sagte sie. »Du hast gedacht, ich bleibe bei ihm, bei Waterweg. Er hat mich eingesperrt. Carmen hat mir den Weg nach draußen gezeigt. Eigentlich hat sie einen Weg nach drinnen gesucht. Zu einem Stück Brot. Und Uwe hat auf mich gewartet.«…Sie holte tief Luft. »Jedenfalls bin ich hier, um dich zu befreien.«

José nickte. Jetzt, dachte Marit, würde er ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass er sie angeschrien hatte. Wie froh er war, dass sie hier war. José räusperte sich.

»Wer ist Uwe?«, fragte er dann.

Da begriff Marit, dass Waterweg mit einem recht gehabt hatte: José lebte in einer anderen Welt. In dieser Welt waren die Männer zu stolz, um sich zu entschuldigen.

»Ein Leguan«, sagte sie und reichte José die Wasserflasche. Zu ihrem Erstaunen lehnte er ab.

»Wir müssen hier weg«, sagte er. »Etwas wird geschehen. Die Tiere sind geflohen. Kannst du die Fesseln lösen? Waterweg hat mir auch das Messer abgenommen …«

Marit verbiss sich einen Fluch und begann die Knoten einzeln zu öffnen. Es dauerte eine Ewigkeit. José zuckte zurück, wenn sie die Schnitte in seinen Händen berührte, und sie fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Halt still, verdammt … Jetzt! Jetzt kannst du deine Hände bewegen. Sie gehören wieder dir.«

Sie zog José auf die Beine, und zum ersten Mal fiel Marit auf, dass sie genau gleich groß waren.

»Du hast gesagt, wir müssen hier weg«, flüsterte sie. »Wie denn? Mit der Mariposa? Mit Casaflora? Wird er uns mitnehmen?«

»Nein.« José schüttelte den Kopf. »Er hat Angst vor Waterweg. Waterweg würde nicht wollen, dass er uns mitnimmt.«

Er hob die Mauser auf, die immer noch dort lag, wo Waterweg sie mit dem Fuß hingeschoben hatte. »Und Waterweg hat mein Magazin.« José ließ das Gewehr fallen. »Es ist wertlos. Wir können Casaflora zu nichts mehr zwingen.«

Ein Grollen lief durch die Insel, und sie hielten sich aneinander fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als das Grollen verebbte, näherten sich Schritte durchs Geäst.

»Waterweg«, zischte Marit. José nickte.

Sie duckten sich gleichzeitig und schlüpften zwischen Ästen hindurch, rannten, flohen durch die plötzlich seltsam warme Nacht. Hinter ihnen wurden die Schritte rascher, holten auf … Sie kamen vom Meer, die Schritte, und Marit und José flohen ins Innere der Insel, wo der Boden anstieg.

Ein seltsamer Geruch erfüllt jetzt die Luft, er erinnerte Marit an das Innere der Kirchen zu Hause. Ihr Verfolger war hinter ihnen zurückgeblieben, Marit hörte ihn nicht mehr.

Sie blieb stehen. »Warte!«, keuchte sie. »Was … was ist das?«

José schnupperte. »Balsaholz«, antwortete er. »Es ist Balsaholz. Die Balsabäume brennen.«

Da sah auch Marit den hellen, größer werdenden Lichtschein des Feuers, ganz oben auf dem flachen Hügel.

»Die Hitze«, sagte José. »Die Hitze muss das Öl in ihnen entzündet haben. Das ist es, was auf der Insel nicht stimmt. Die Tiere haben es geahnt.«

In diesem Moment kamen die Schritte wieder. Der, der hinter ihnen her war, hatte sie reden hören. Es war zu spät, davonzulaufen. Und es gab keine Richtung mehr, in die man laufen konnte. Vor ihnen, oben auf dem Berg, brannte der Wald.

Einen halben Atemzug später warf sich jemand auf Marit und riss sie zu Boden.

»Seid ihr denn wahnsinnig?«, keuchte Casaflora. »Ihr rennt genau auf das Feuer zu!«

In seiner Hand blitzte ein Messer. »Warum sind Sie an Land gekommen?«, fragte José.

»Um dich loszuschneiden«, sagte Casaflora. »Vorhin, als ich dich hierließ, war mir noch nicht klar, was mit der Insel passieren würde. Kommt!«

»Wohin?«, fragte Marit, als Casaflora sie auf die Beine zog.

»Zum Strand«, sagte José. »Das ist der einzige Ort, an dem wir sicher sind vor dem Feuer.«