Casaflora lächelte.
Die Welt war noch lange voller Funken – lange nachdem sie Marchena verlassen hatten. Von Weitem war die Insel eine Explosion aus Farben: Gelb, Rot, Gold, Orange, Weiß … Sie sahen die Lava jetzt ins Meer stürzen, dort, wo sie vor Kurzem noch über den Strand gegangen waren.
Eine Weile dachte José, die Hitze würde die Segel der Mariposa versengen. Sie würde ihre Tampen verglühen, ihre Honigbalken verkohlen lassen, ihren Tank entzünden und sie in eine schwimmende Fackel verwandeln. Er sah, wie schwer den Tieren das Atmen fiel.
»Der alte Noah hatte es einfach«, knurrte er. »Er hat seine Tiere nur durch eine Flut gebracht.«
Marit antwortete nicht. Sie hatte die Arme um Kurts großen weißen Federkörper geschlungen und kauerte unbeweglich auf dem Boden, den Blick starr auf die brennende Insel gerichtet: Von hier aus glich das Feuer einer riesigen rote Krabbe am Himmel, einer Krabbe mit Dutzenden von flammend roten Beinen.
Irgendwann wurde die Luft kühler, der Wind nahm zu und trug sie schneller fort von Marchena. Oskar reckte seine Stummelflügel, als wollte er prüfen, ob sie in der Hitze geschmolzen waren. Eduardo schüttelte den Kopf und steckte den rosa Hals unter einen Flügel, um nach all der Aufregung endlich zu schlafen. Und Carmen, die wieder einmal in Marits Ärmel saß, gab eine abschließende Serie von winzigen Niesern von sich, ehe sie den Ärmel verließ und sich in eine Taurolle kuschelte.
Die beiden Schiffe waren nicht näher gekommen.
»Es ist jetzt in Ordnung«, sagte José und legte eine Hand auf Marits Schulter. »Der Vulkan ist zu weit weg. Wir haben es geschafft. Marit?«
Marit schwieg. Er drehte ihr Gesicht behutsam zu sich. Sie sah ihn nicht. Ihre Augen glichen einem erblindeten Spiegel, einer beschlagenen Glasscheibe. Und da ahnte José, was geschehen war. Er schüttelte Marit. »Du siehst nicht die Insel, nicht wahr?«, fragte er. »Du siehst die Häuser. Es sind keine Häuser, Marit! Es ist nur Gebüsch! Wach auf! Rede mit mir!« Und dann griff er über die Reling, schöpfte eine Handvoll Wasser – noch immer zu warmem Wasser – und warf es ihr ins Gesicht.
Marit blinzelte und schnappte nach Luft. Ihre Augen sahen ihn jetzt. Doch sie klammerte sich noch immer an Kurt.
»Sie waren da«, sagte sie, und plötzlich begann sie so schnell und hektisch zu reden, dass José sie kaum verstand, wirr und zusammenhanglos. »Sie waren alle da! Ich habe sie gesehen … Dies war die Nacht, die ich nicht erlebt habe. Das Feuer, das ich nicht gesehen habe, weil ich bewusstlos in einem Luftschutzkeller lag. Ich habe das Feuer damals nicht gesehen, aber es hat auf mich gewartet. Es hat hier auf mich gewartet. Ich habe mich umgedreht … José, ich dachte, ich hätte mich damals nicht umgedreht, aber ich habe. Ich erinnere mich jetzt. Bevor ich an die Tür gehämmert habe, bevor Richard mich hineingelassen hat. Jetzt weiß ich es wieder! Mama und Julia – sie sind auf die Straße hinausgelaufen. Vielleicht war es wegen Richard, weil Mama dachte, dass er sie nicht hineinlassen würde. Nur mich. Er wollte mich immer küssen … er war widerlich … Und dann hat er mir später aus den Trümmern des Hauses herausgeholfen …
Aber Mama hätte er nicht in den Keller gelassen … Ich habe nach ihr gerufen. Da war ein Motorengeräusch, laut, wie von einem Auto, zu laut … Sie haben mein Rufen nicht gehört …
Der Fliegeralarm war noch lauter … Ich habe noch einmal gerufen, und dann habe ich an die Tür gehämmert. Ich hätte Mama und Julia nachlaufen sollen, sie mit in den Keller schleifen, José, ich hätte … aber ich war zu feige!«
»Nein«, sagte José. »Du warst ein Mal vernünftig.«
»Was nützt es denn, vernünftig zu sein?«, rief Marit. »Wenn doch jeder außer mir tot ist! Und jetzt ist Waterweg auch tot und Casaflora und alle Strandkrabben und überhaupt jeder …«
»Ich nicht«, sagte José. »Ich bin lebendig.«
»Ja«, sagte Marit leise. »Ja, das bist du.«
Sie brach in Tränen aus. Ohne jede Vorwarnung. Es war, als wäre ein Vulkan aus Salzwasser ausgebrochen. Nein, wie der Niño, jener sintflutartige Regensturm, der alle paar Jahre im Winter die Inseln überfiel. Doch im Gegensatz zum Niño weinte Marit lautlos. Nicht einmal ihre Schultern zuckten.
José begriff, dass sie alle Tränen weinte, die sie bisher nicht geweint hatte.
Echte Männer, hatte José sagen hören, wussten nicht, was sie dagegen tun sollten, wenn Frauen weinten. Er hoffte, es war kein Zeichen von fehlender Männlichkeit, dass es ihm nicht so ging. Er wollte gar nichts gegen Marits Tränen tun. Sie waren in Ordnung, sie mussten geweint werden, so wie der Regen des Niño fallen und die Vulkane ausbrechen mussten.
Für einen Moment fragte er sich, ob die Tränen die Mariposa wohl versenken könnten. Es war eine sehr schwere Sorte von Tränen: getränkt mit Asche und Glut, mit tausend Kilometern einer schweigenden Reise. Aber die Mariposa war auch eine sehr starke Sorte von Boot: gefirnisst mit dem Sonnenschein von tausend Äquatortagen.
Nach einer sehr langen Zeit hörte Marit genauso abrupt auf zu weinen, wie sie angefangen hatte. Sie wischte sich die letzten Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht und blinzelte.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
»Ist okay«, sagte José. »Nur … lass jetzt vielleicht den Albatros los. Du erdrückst ihn.«
Sie lachte. »Das ist es, was man hören will, wenn man weint«, sagte sie. »Keine geheuchelten Mitleidsreden. Sondern genau diesen Satz: Lass jetzt den Albatros los.«
Und plötzlich gähnte sie.
»Schlaf«, sagte José. »Leg dich in die Kajüte und schlaf. Es war eine lange Nacht. Ich übernehme die erste Wache.«
»Aber es ist Morgen! Schau, die Sonne geht gerade auf.«
»Na und?«, sagte José und grinste. »Ist das etwa unsere Schuld?«
Als Marit die wenigen Stufen hinunterstolperte, sah er, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Der Wasserleguan, der neu zur Arche gestoßen war, folgte ihr auf trägen Echsenfüßen. José versuchte, nicht daran zu denken, wie müde er selbst war. Er war ein Mann, er musste wach bleiben. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise wünschte er sich für einen kurzen Moment, kein Mann zu sein.
Er hob den Kopf und wollte die Morgensonne ansehen, doch eine schwarze Wolke bedeckte sie, eine Wolke, die der Wind von Marchena herantrug. Und dann begann es Asche zu regnen. Der Vulkan schickte seinen letzten Abschiedsgruß, ehe er sie gehen ließ.
Marit tastete sich durchs Dunkel der Kajüte und ließ sich auf die Steuerbordbank fallen, ohne auch nur die Schuhe auszuziehen. Sie schlief nach Sekunden. Sie hatte so sehr gehofft, nichts zu träumen. Aber noch waren ihre Träume nicht fertig mit ihr. Sie träumte von Richard.
Es war Sommer und die Hitze kochte in den Straßen. Die hohe Sonne leuchtete die zerbombten Häuser grell aus wie Theaterkulissen. Das erste Gras wucherte bereits zwischen den Wänden. Im Traum saß Marit auf einem Stück Mauer, das früher ihre Haustür enthalten hatte, und warf Kieselsteine nach einem vergessenen Blechnapf. Es war nur die Puppe Marit, die sinnlose Kiesel warf.
»Hallo, Marit«, sagte Richard, und die Puppe zuckte zusammen, denn obwohl sie nicht sprechen konnte, konnte sie doch ganz gut hören. Richard musste sich angeschlichen haben. Er setzte sich neben sie auf die Mauer.
»Es war jemand hier«, sagte er. »Heute Morgen. Hat nach dir gefragt. Willst du nicht wissen, wer das war?«
Marit traf den Blechnapf.
»Willst du nicht? Ich könnte es dir sagen. Aber du redest ja nicht mit mir.«