»Sie kommen schon noch«, sagte José. »Wenn sie die Mariposa nicht mehr sehen, wissen sie, dass wir irgendwo hier im Wasser schwimmen.«
Die Schiffe wechselten tatsächlich den Kurs. Aber diesmal fuhren sie auf der anderen Seite an ihnen vorbei, und noch immer war die Entfernung viel zu groß.
»Marit!«, sagte José plötzlich. »Ich weiß es jetzt! Woher ich das andere Schiff kenne! Es ist die Albatros! Die Jacht des alten Silvio, der mich nach Baltra mitgenommen hat. Ich weiß nicht, warum er uns verfolgen sollte … vielleicht hat er das Schiff jemand anderem geliehen … aber die Albatros ist ein gutes Schiff. Die Albatros wird uns finden. Bestimmt.«
Marit lag auf dem Rücken auf ihrer Tür, die Beine angezogen, Carmen auf dem Bauch. Ihre Kleider trockneten langsam und die Sonne brachte die Wärme in ihren Körper zurück. Doch die Schiffe brachte sie nicht zurück. Gegen Mittag wechselten sie zum dritten Mal den Kurs.
Was sie suchten, war zu klein, war vernichtend winzig im riesigen Blau des Pazifiks. Seine sanften Wellen waren noch immer zu hoch, sie verbargen das willenlos dahintreibende Spielzeug des Meeres gut.
Gegen Mittag fiel ein leichter Regenschauer, und Marit und José ließen das Süßwasser mit geschlossenen Augen über ihre Gesichter laufen und versuchten, so viel wie möglich davon zu trinken. Es nahm die sengende Hitze der Sonne fort und kühlte auf wunderbare Weise. Als der Regen nachließ, öffnete Marit die Augen. Und da sah sie, wie die beiden Schiffe abdrehten und davonfuhren. Sie hatten ihre Suche aufgegeben.
»Jetzt sind wir ganz allein«, sagte Marit bitter. »Ganz allein mit der Sonne und dem Ozean. Und einer Handvoll Tieren, die uns auch nicht helfen können.«
»Nein«, sagte José. »Wir sind nicht allein. Wir sind zu zweit. Vergiss das nie.«
Wie viele Bücher hatte Marit über Schiffbrüchige gelesen! Über die unbarmherzig herabbrennende Sonne. Über die Wasserknappheit. Den Hunger auf den Rettungsbooten. Den Kannibalismus, der letztlich ausbrach. Den Mut, den die Schiffbrüchigen bewiesen. Es war alles gelogen.
Marit wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, eines der Tiere aufzuessen, die mit ihnen unterwegs waren. Die Tür, auf der sie lag, schaukelte auf eine seltsam unstete Weise, und wenn Marit irgendetwas in ihrem Magen spürte, dann Übelkeit. Sie konnten auch keinen Mut beweisen, denn es gab nichts, was sie hätten tun können. Das einzig Wahre, was in den Büchern gestanden hatte, war die sengende Sonne. Sengend. Erst jetzt begann sie das Wort zu begreifen.
Es war die hellste Art, hell zu sein, die heißeste Art, heiß zu sein, die unausweichlichste Art, unausweichlich zu sein. José zog sein Hemd aus, um damit seinen Kopf zu schützen, wie damals auf der Mariposa. Und Marit stellte voller Erstaunen fest, dass sie noch immer eine karierte Mütze in der Tasche hatte. Wenn sie gegen Wind und Regen in Europa half, warum sollte sie nicht gegen die Sonne des Pazifiks helfen?
Sie half nicht. Die Sonne durchbohrte den Stoff mit ihren Strahlen und dörrte die Körper auf dem Ozean aus, sie spiegelte sich tausendfach auf der Wasseroberfläche und stach in die Augen, stach ins Gehirn. Und dann kam die Nacht und mit der Nacht kam die Kälte.
»José«, flüsterte Marit. »Diese Nacht … überleben wir nicht.«
»Sei still«, sagte José. Sie hatten ihre Fahrzeuge, die Tür und die Bank, mit Streifen ihrer Kleidung zu einem einzigen Floß zusammengebunden, und nun drängten sie sich eng aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Kurt deckte sie mit seinem weißen Federkleid zu. Und die Nacht ging vorüber und sie lebten noch, und die Sonne kehrte wieder, brennend heiß, und alles begann von vorn.
In dieser Mittagsstunde regnete es nicht. Das Meer war weiß wie ein Stück Papier, weiß wie Schnee, weiß wie das flüssige Gestein im Innern eines Vulkans … Und dann tauchte etwas aus dem Weiß auf. Eine riesige Flosse, auch sie an ihrer Unterseite reinweiß.
»José«, flüsterte sie. »Da! Sieh nur!«
»Ein Wal«, antwortete José heiser. »Ein Buckelwal.«
Der Wal blieb eine Weile verschwunden und tauchte ein Stück weiter noch einmal auf, nur um mit einer Krümmung seines riesigen, seepockenbedeckten Rückens wieder zu verschwinden. Er klatschte mit seinen Flossen auf die Wasseroberfläche, es knallte wie Schüsse und Marit und José zuckten zusammen. Doch offenbar war dies die Art des Wals zu spielen. Er schwamm eine ganze Weile neben ihnen her, und wenn er an die Oberfläche kam, sahen sie die Wasserfontäne, die er aus seinem Blasloch stieß.
José hob den Kopf ein wenig von der Bank, auf der er lag. »Wenn du diesen Wal … behalten willst«, sagte er schwach, »dann rechne nicht damit, dass ich zustimme.«
Marit lächelte, doch das Lächeln tat weh, denn die Trockenheit hatte tiefe blutige Risse in ihre Mundwinkel gegraben. »Ich kann ihn nicht … behalten«, flüsterte sie mühsam, stockend. »Er ist … zu groß. Einen so großen Namen kann ich mir … niemals ausdenken.«
Da verließ der Wal sie endgültig. Marit hielt ihr Gesicht ins Wasser, um ihm nachzublicken, doch statt des Wals fand sie eine Gruppe von Wasserschildkröten dort. Sie sah das feine Netz aus hellgelben Linien, an denen ihre dunklen Panzerplatten zusammenstießen, sah ihre grazilen Flossen und ihre aufmerksam glänzenden Edelsteinaugen …
»Wie schön sie sind!«, wisperte Marit. »Wir werden nie jemandem erzählen können, wie schön sie sind.« Sie wusste nicht, ob José antwortete. Sie hörte nichts mehr. Und dann, dann hörte sie wieder, hörte im Traum.
Sie hörte, wie sich die Haustür einer Hamburger Wohnung öffnete, mitten in der Nacht. Sie hörte Schritte im Flur vor ihrem Zimmer. Die Angst krallte sich um ihr Herz wie eine eisige Zange. Sie tappte im Nachthemd über den Dielenboden und öffnete leise die Tür zum Flur. Es war dunkel dort, aber in der Küche brannte Licht. Sie hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Der Wasserhahn lief.
Jemand summte eine Melodie und die eisige Zange um Marits Herz zerbrach. Es war Mama. Aber von wo kam Mama um diese Zeit? Wo war sie gewesen? Warum summte sie?
In Marit begann etwas zu keimen, was keine Angst war. Eine Kreuzung aus Misstrauen, Trauer und Wut. Sie schob die angelehnte Küchentür auf und ging hindurch. Die Fliesen waren kalt unter ihren Fußsohlen. Mama saß am Küchentisch vor einem Glas Wasser. Als Marit hereinkam, ließ sie etwas in ihrer Tasche verschwinden. Ein Stück Papier. Ihr Füllfederhalter lag noch auf dem Tisch. Sie hatte etwas geschrieben.
»Marit«, sagte sie jetzt. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln.
»Wo warst du?«, fragte Marit.
»Ich … ich war nur im Hof unten. Ich habe …« Mama zögerte, sah sich um und zeigte auf den Schrank. »Ich habe mir die Nachtfalter angesehen. Da, siehst du?« An der Kante des Küchenschranks saß ein brauner Schmetterling mit schwarz-gelb gemusterten Flügeln. »Ist er nicht schön? Er saß am Holzschuppen. Ich habe ihn mit heraufgebracht. Ich wollte nachsehen, welche Sorte es ist.«
Marit trat näher an den Falter heran. Er rührte sich nicht. »Ist er tot?«
Mama lachte. »Aber nein. Er wundert sich nur, was er in unserer Küche soll. Ich bringe ihn zurück, sobald ich seinen Namen in meinem Buch gefunden habe.«
Marit sah auf. »In diesem Fall solltest du das Buch aus dem Wohnzimmer holen.«
»Oh«, sagte Mama. »Ja. Ja, das sollte ich wohl.«
War sie wirklich im Hof gewesen, um einen Nachtfalter zu bestimmen? Es war so … unsinnig. Aber manchmal tat Mama unsinnige Dinge. Vor allem in letzter Zeit. Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Andererseits … Es konnte genauso gut sein, dass der Nachtfalter vollkommen zufällig in der Küche saß: eine Ausrede, sonst nichts.
»Schreibst du einen Brief?«, fragte Marit.
Mama schüttelte den Kopf. »Ich wollte aufschreiben, wie … wie er aussieht, weißt du? Der Falter.«
»Das ist doch alles gelogen«, sagte Marit. »Du hast dich mit jemandem getroffen. Mit einem Mann.«