»Vielleicht.«
Marit merkte erst, dass sie mit den Fäusten auf Mama losgegangen war, als Mama sie festhielt.
»Marit«, flüsterte sie. »Marit, hör auf! Das Leben, verstehst du … das Leben muss weitergehen.«
»Papa ist vielleicht gar nicht tot!«, zischte Marit. »Vielleicht hat er den Absturz seiner Maschine überlebt und … und liegt verwundet irgendwo in Frankreich und wartet darauf, dass der Krieg zu Ende geht und er nach Hause kommen kann. Und du rennst mitten in der Nacht weg … und triffst dich mit einem anderen! Du willst wohl, dass Papa nicht wiederkommt, wie? Du willst, dass er tot ist!«
Mama hielt sie auf Armeslänge von sich ab, und Marit dachte, sie würde ihr eine Ohrfeige geben für das, was sie da gesagt hatte. Doch Mama musterte sie nur für einen Moment, dann zog sie Marit an sich und drückte sie so fest, dass ihr die Luft wegblieb.
»Geh zurück ins Bett«, flüsterte sie. »Schlaf noch ein wenig.«
Am nächsten Morgen fand Marit den Nachtfalter auf dem Fensterbrett und ließ ihn hinaus. In der Tasche von Mamas Jacke, die am Haken hing, steckte ein Briefumschlag. Marit sah es, als sie zur Schule ging. Sie nahm den Umschlag heraus. Es war keine Briefmarke darauf, es gab keine Adresse. Vielleicht würde Mama den Umschlag selbst irgendwo einwerfen. In den Briefkasten eines Mannes, der nicht Papa war, dachte Marit bitter. Nur eine Zeile stand säuberlich in der Mitte des zugeklebten Umschlags:
Forschungsprojekt: Nachtfalter.
Auch José erinnerte sich. Er erinnerte sich, halb im Traum, daran, was auf Santiago geschehen war, ehe die beiden Amerikaner ihn bewusstlos gefunden hatten.
Er erinnerte sich, wie er sein Gewehr anlegte, wie er zielte und abdrückte. Und jetzt endlich sah er, auf wen er gezielt hatte: Es war kein Mensch gewesen. Es war ein junger Bulle.
Eines der verwilderten Rinder der Inseln, die hier keine natürlichen Feinde hatten und sich unkontrolliert vermehrten. Schon als sich der Schuss löste, wusste José, dass es Unsinn war, was er tat. Er konnte keinen ganzen Bullen auf die Mariposa schleppen. Er konnte sein Fleisch auch nicht an Land zerlegen. Es hätte ewig gedauert, und was wollte er hinterher damit anfangen? Zu Hause hatten sie das Fleisch der Bullen eingepökelt, aber hier hatten sie weder mehrere Kilo Salz noch die notwendige Zeit.
Aber er hatte abgedrückt und nun war es zu spät. Ehe der Schuss traf, trat Josés Opfer einen Schritt zur Seite, und so streifte die Kugel ihr Ziel nur. Der Bulle warf den Kopf zurück und brüllte seinen Ärger und seinen Schmerz in den Wald hinaus. Dann rannte er quer über die Lichtung auf seinen Angreifer zu. José schoss ein weiteres Mal. Er hatte keine Wahl mehr. Er musste den Bullen töten, sonst würde der Bulle ihn töten. Diese Kugel traf, doch auch sie verletzte das Tier nur und machte es noch ärgerlicher. José sprang zur Seite, der Bulle stürmte an ihm vorbei, brach krachend ins Unterholz – und kehrte um. Als José zum dritten Mal durchlud und zielte, hatte das Tier den Kopf gesenkt und kam in gestrecktem Galopp zurückgerast. José sah das Blut an seinem Hals und seiner Brust hinabrinnen. Er sah die dunklen Flecken auf seinem Fell. Und er sah die unbändige, rot geäderte Wut in den Augen des Tiers.
Der Schuss, der sich aus seinem Gewehr löste, löste sich zu spät. José sah nur noch einen Wirbel aus rasender, brodelnder Wut, ein Huf traf ihn am Kopf – und er erwachte aus seinem Erinnerungstraum, keuchend vor Schmerz.
»Ein … ein Bulle«, flüsterte er. »Es war nur ein Bulle. Und wir haben die ganze Zeit über gedacht …«
Der Schmerz hinter seiner Schläfe war noch immer da, er war zu real, um aus seiner Erinnerung zu stammen. Und dann merkte er, dass jemand mit einem kleinen harten Gegenstand an seine Schläfe hämmerte. Er versuchte die Augen zu öffnen und schaffte es nur mit Mühe. Die Wellen mussten über ihn geschwappt sein, ohne dass er es gemerkt hatte: Das Salz hatte seine Wimpern verklebt und verkrustet. Er blickte aus schmalen Schlitzen in das Gesicht – eines Flamingos. Hatte Eduardo beschlossen, der erste menschenfressende Flamingo zu werden? Jetzt bog er den Hals zur Seite und vollführte ein paar komplizierte Bewegungen mit seinen Flügeln. José folgte seinem Blick. Und da begriff er mit einem Schlag, was der Flamingo ihm sagen wollte. Es ging um Marit.
Sie war ins Wasser gerutscht, nur ihre Arme befanden sich noch auf der ehemaligen Kajütentür. Und sie rutschte weiter. Auch sie hatte die Augen geschlossen. José griff nach ihrer Hand und versuchte sie hochzuziehen, zurück auf die Tür. Aber er hatte keine Kraft mehr. Er, der ein Mann hatte sein wollen, war so schwach geworden wie ein Kind. Alles, was er tun konnte, war, Marits Hand nicht loszulassen.
»Marit!«, wollte er rufen, doch er flüsterte ihren Namen nur. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und verstummte, um zu lauschen. Ihre Worte waren leise wie der Wind am anderen Ende der Welt, doch nach einer Weile verstand er Fetzen von dem, was sie sagte.
Da war das Wort »Nachtfalter« und das Wort »Telefon«. Sie wiederholte ihren Satz, und schließlich verstand José: »Sie hat es auch am Telefon gesagt. Nachtfalter. Es geht um die Nacht-falter … Mission Nachtfalter … einen Tag bevor alles brannte …« Träumte Marit? Ihre Sätze ergaben keinen Sinn. »Das Schiff!«, flüsterte sie jetzt. »Waterwegs Schiff! Wie hieß es?«
Mari Nocturna, dachte José. Die Nächtliche Maria. Nein. Plötzlich verstand er, warum das a am Namen Maria fehlte. »Mari« war eine Abkürzung: die Abkürzung von »Mariposa«. Auch Waterwegs Schiff trug den Namen Mariposa. Mariposa Nocturna. Der Nachtfalter.
Aber wer hatte das Wort am Telefon gesagt? Und wo? In London? Eine Welle überspülte das Floß, riss an Marit – riss ihre Hand aus Josés Hand.
»Nein!«, schrie er. Wollte er schreien. Er schrie nicht. Es war ein stummes Nein.
Er sah Marit versinken, wie er die Mariposa hatte versinken sehen. Er wollte den Kopf heben, um zu sehen, ob ein Wunder geschehen und eines der Schiffe wiedergekommen war. Ob alles in letzter Sekunde noch gut würde. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Kopf sank zurück auf das Holz der Bank und er schloss die Augen wieder.
Lied des Blaufußtölpels
Der Pinguin schwimmt, vor allen Dingen.
Der Fink, der singt voll Süße.
Der Albatros hat die größten Schwingen.
ICH habe die schönsten Füße.
Wale sind riesig. Delfine sind klug.
MIR sind meine blauen Füße genug.
Ich kann auch tanzen, den schwierigsten Tanz,
wenn ich die Liebste grüße.
Ich fliege und tauche voll Eleganz,
doch am schönsten sind meine Füße.
Sie sind sooo schön. Vom blauesten Blau.
Willst du sie sehen? Komm, schau genau.
Du, Bruder Mensch, hast weit und breit
die Welt dir untertan gemacht.
Doch deine Füße – welch ein Leid! –
sind hässlich wie die Nacht.
La cruz negra
Das schwarze Kreuz
Marit lag in ihrem Bett, zu Hause in Hamburg, und hörte den Fliegeralarm. Sie lag ganz still da. Sie wusste, sie musste aufstehen, den Koffer nehmen und mit Mama und Julia hinunter in den Luftschutzkeller gehen. Nein. Sie würde einfach hier liegen bleiben, bis alles wieder still war. Es würde nichts passieren. Es gab so oft Alarm. Es passierte nie etwas.
»Marit! Wach auf!« Das war Mama. Sie musste direkt neben Marits Bett stehen. Und dann sagte sie etwas Seltsames. Sie sagte: »Dies ist die Nacht. Beim nächsten Alarm, haben sie gesagt, ist es an uns, mit den Nachtfaltern zu fliegen.«