Die Männer traten aus dem Wald auf eine freie Fläche hinaus und wateten nun durch hüfthohes Gras wie durch Wasser. José blieb einen Moment zwischen den Bäumen stehen. Schließlich holte er tief Luft und sprintete los. Er würde mit seinen bloßen Händen kämpfen. Er musste es versuchen.
Er kam nicht weit.
Nach ein paar Metern stolperte er über etwas, das im hohen Gras lag, und fiel der Länge nach hin, zum zweiten Mal in dieser Nacht. Als er diesmal aufsah, war es keine Riesenschildkröte, die sich über ihn beugte. Es war Marit.
»José?«, flüsterte sie und blinzelte, eben erst erwacht. »Was … was ist passiert? Wo sind wir?«
Er öffnete den Mund, doch er war unfähig zu antworten. Er verstand nichts.
»Bin ich wieder im Schlaf gewandert?«, wisperte Marit. Dann nickte sie und antwortete sich selbst. »Ja, das bin ich wohl. Und du bist mir gefolgt, damit ich nicht in irgendeinen Vulkankrater falle.«
Da fand José endlich Worte, doch sie ergaben wenig Sinn. »Wie … wie kannst du hier sein?«, flüsterte er. »Du hingst eben noch über der Schulter dieses Mannes.« …
Er stand auf und half Marit auf die Beine. Die weite, hügelige Pampa war leer. Da war nur hohes Gras. Keine Gestalten, die jemanden wegtrugen. Marit legte eine Hand auf seinen Arm, eine warme Hand in der kalten Nacht. »Kann es sein«, fragte sie leise, »dass auch du bisweilen dumme Träume träumst?«
Den Rest der Nacht verbrachten sie am Strand, dicht nebeneinander, als müssten sie sich gegenseitig wärmen. Doch die Kälte, die José spürte, kam von innen. Er hatte ein Stück seines Hemds abgerissen und Marits rechtes Handgelenk an sein linkes gebunden. Er hatte keine Lust, noch einmal aufzuwachen und den Platz neben sich leer vorzufinden. Er wusste nicht mehr, was Traum und was Wirklichkeit war. Die Isla Maldita ließ die Grenzen verschwimmen.
Vielleicht, dachte er, ehe er einschlief, war es das: Vielleicht war sein Urgroßvater einfach verrückt geworden. Vielleicht gab es gar nichts Besonderes auf dieser Insel – keine herumgeisternden Piraten, keine deutschen Spione. Vielleicht wurde einfach nur jeder hier verrückt. Aber was lag dann an der Stelle verborgen, an der in der Karte das schwarze Kreuz eingezeichnet war?
Als sie wieder neben José im Sand lag, fragte sich Marit, was sie geträumt hatte. Ihr Traum war unterbrochen worden, und sie wusste, dass sie ihn zu Ende träumen musste. Sie fühlte den Stoffstreifen um ihr Handgelenk und lächelte in der Nacht.
»Mein dummer Bruder«, flüsterte sie, weil sie wusste, dass er schlief und sie nicht hörte. »Glaubst du, ein Streifen Stoff könnte die Dinge ändern? Die Geschichte wird so enden, wie sie enden soll, und wenn das bedeutet, dass ich in den Busch gehe und dort jemanden treffe, dann werde ich in den Busch gehen und jemanden treffen.«
Plötzlich wusste sie wieder, was sie geträumt hatte, als José über sie gestolpert war.
Sie hatte im Hof gestanden, zu Hause … und sie schloss die Augen und stand abermals dort. Sie trug den Küchenabfalleimer, aus dem es nach fauligem Gemüse roch. Es war Abend, ein Abend, nicht lange nach der Sache mit dem Nachtfalter. Im Hof hopste Julia auf und ab und schwang ein Springseil. Sie redete mit jemandem, während sie hopste.
»Und dann habe ich …« – ein Hopser – »sie wieder gehört, die …« – ein Hopser – »Schritte. So schlurfend …« – ein letzter Hopser – »wie von einem mit einer Eisenkette am Bein.«
Sie war stehen geblieben und sah zu den Mülltonnen, und da entdeckte Marit die Gestalt, die zwischen den Tonnen an der Mauer lehnte. Richard.
»So, so«, sagte Richard langsam. »Soo, soo.«
»Was machst du hier?«, fragte Marit.
»Ich rede mit deiner kleinen Schwester«, sagte Richard und löste seine lange Gestalt aus dem Schatten. »Was dagegen?«
»Julia, geh rein und wasch dir die Hände«, sagte Marit. »Wir essen gleich.«
Julia zog eine Schnute, hopste aber gehorsam ins Haus, und gleich darauf hörte Marit, wie sie die Treppe hinaufrannte.
»Weißt du, was sie mir erzählt hat?«, fragte Richard und trat noch einen Schritt näher. Nur der stinkende Mülleimer in Marits Armen befand sich noch zwischen ihr und Richard. Sie hielt ihn fest wie einen Schild.
»In eurem Holzschuppen spukt es.« Richard bemühte sich um ein theatralisches Flüstern.
»Wenn du Julia fragst, spukt es überall«, antwortete Marit. »Unter ihrem Bett, im Kleiderschrank …«
»Wollen wir mal nachsehen, ob es im Schuppen wirklich spukt?«, fragte Richard und hielt etwas hoch, über den Mülleimerschild. Einen Schlüssel. Marit erkannte ihn. Es war der Schuppenschlüssel. Mamas Schuppenschlüssel mit dem roten Anhänger.
»Woher hast du den?«, fragte sie. »Wir suchen ihn seit Tagen.«
»Gefunden«, antwortete Richard. »Unter der Mülltonne, ganz hinten. Ihr solltet besser darauf aufpassen.« Er ging vorwärts und zwang Marit rückwärtszugehen, auf die Tür des Holzschuppens zu.
»Kommst du mit?«, flüsterte er. »Ist sicher dunkel dort. Wahrscheinlich hast du zu viel Angst, oder? Dass es wirklich spuken könnte.«
»Unsinn«, sagte Marit und stellte den Mülleimer ab. »Gib den Schlüssel her.«
Richard schob sie beiseite, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Schuppentür öffnete sich mit einem rostigen Quietschen nach innen.
»Na?«, fragte Richard. »Trauste dich da rein?«
Marit sah seinen abschätzigen Blick, er musterte sie von oben herab, grinsend. Sie wusste, dass sie den Schlüssel aus der Tür ziehen, den Müll in die große Tonne kippen und einfach verschwinden sollte. Aber sein Blick ärgerte sie.
Sie machte einen Schritt in den dunklen Holzschuppen. Es roch nach Holz und nach Ratten. Direkt hinter der Tür stand ein hohes Regal voll staubiger Einmachgläser. Das Regal verbarg den Blick auf den Rest des Schuppens. Sie lauschte einen Moment und wurde sich bewusst, wie unsinnig das war. Natürlich gab es im Holzschuppen keine schlurfenden Schritte von Geistern mit Eisenketten an den Füßen.
»Hier ist niemand.«
Als sie sich zu Richard umdrehte, war er noch näher als zuvor. Ihre Nase berührte beinahe seinen Hals. Er schob die Schuppentür mit dem Fuß zu, sodass nur noch etwas Dämmerlicht durch die Ritze drang, und stützte seine Hände links und rechts von Marit auf die Regalbretter.
»Hier ist niemand?«, wisperte er. »Doch. Hier sind wir. Das reicht.«
Dann beugte er seinen Kopf und versuchte seine Lippen auf ihren zu platzieren, aber Marit drehte sich zur Seite, und der missglückte Kuss landete auf ihrer Wange: warm und feucht und ungeschickt.
»Was soll das?«, zischte sie. »Hör auf damit!«
Richards Hand packte ihr Kinn und drehte es zu sich. »Ich weiß nicht, was du hast«, wisperte er. »Sieht uns doch keiner!«
Sein Gesicht kam wieder näher, und sie ballte die Fäuste, um zuzuschlagen, aber in diesem Moment machte Richard wohl eine unkluge Bewegung, denn eine Kaskade von leeren Einmachgläsern fiel mit einem lauten Krachen vom Regal.
»Was ist denn da los?«, rief jemand. Frau Adam. Richard ließ Marit los. Über den Hof näherten sich Schritte und Frau Adam riss die Schuppentür auf. »Was macht ihr hier?«
»Wir … wollten etwas nachsehen«, murmelte Richard, während er die Gläser zurückstellte. Sie waren nicht kaputtgegangen. »Julia hat gesagt, es spukt hier, und …«
»So, so. Spukt«, sagte Frau Adam und zog Richard am Kragen aus dem Schuppen, obwohl er zwei Köpfe größer war als sie. »Und das glaubst du?«
»Nein«, sagte Richard und wand sich. »Ich …«
Marit schloss die Schuppentür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein. »Und du?« Frau Adams Zeigefinger pikte sie in die Brust. »Wolltest du auch nachsehen, ob es spukt, junge Dame?« Sie schüttelte den Kopf. »Übrigens wohnst du ein Haus weiter, Richard. Da habt ihr einen eigenen Schuppen. Geh und guck dort nach, ob du einen Geist findest.«