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Marit sah ihr nach, wie sie über den Hof davonschlurfte. Vielleicht, dachte sie, war es nur Frau Adam gewesen, die Julia im Schuppen hatte herumschlurfen hören. Als Richard gegangen war, hob sie den Abfalleimer auf und kippte seinen Inhalt in das gierige Maul der großen Metalltonne: Zwiebelschalen, verfaultes Gemüse, ein paar zerrissene Putzlumpen, starr vor Dreck. An einem der Putzlumpen war ein Knopf. Ein Hemdknopf. Sie sah genauer hin und entdeckte noch einen Knopf. Vielleicht waren es keine Putzlumpen. Marit überwand ihren Ekel, griff in die Mülltonne und zog ein Stück Stoff aus dem Durcheinander. Es sah aus, als wäre es einmal eine Hemdtasche gewesen. Auf dem Stoff prangte ein großer dunkler Fleck. Bräunlich rot. Blut.

Sie ließ den Fetzen fallen. Jemand hatte all diese Kleider sehr sorgfältig in Stücke gerissen, damit niemand sie als Kleider erkannte. Nicht sorgfältig genug. Sie hielt sich mit einer Hand die Nase zu, griff mit der anderen noch einmal in den Müll, tiefer jetzt, und stopfte die Kleiderfetzen tief zwischen die anderen Abfälle hinein, ehe sie den Deckel der Mülltonne schloss.

Als sie die Treppe hinaufging, zitterten ihre Knie. Hatte jemand vom Fenster aus gesehen, wie sie in der Tonne gewühlt hatte? Sie könnte sagen, sie hätte etwas gesucht, etwas versehentlich Weggeworfenes … In Marits Kopf hämmerte ein Wort: Nachtfalter, Nachtfalter … Mission Nachtfalter … Wo war Mama neulich Nacht gewesen? Brachte sie in der Dunkelheit Leute um? Würde sie Marit antworten, wenn sie sie fragte? Nein, dachte sie dann. Sie würde nicht fragen. Es war besser, die Antwort nicht zu wissen.

Sie spürte Richards Lippen noch auf ihrer Wange, als sie aufwachte. Nein. Es war etwas anderes. Etwas Feuchtes, Merkwürdiges, das nicht aus ihrem Traum stammte. Sie setzte sich auf, griff danach und schrie auf. Etwas Kleines, Glibberiges lag in ihrer Hand. Jemand lachte.

»Ein Tintenfisch«, sagte José hinter ihr. »Es ist ein Tintenfisch.«

»Oh«, sagte Marit. Jetzt sah sie, dass eine ganze Reihe von kleinen braunen Tintenfischen neben ihr im Sand lag. Daneben saß Kurt der Albatros und sah sehr stolz aus. Die Tintenfische hingegen sahen sehr tot aus.

»Er hat sie gefischt«, erklärte José. »Heute Nacht.«

Marit drehte sich um. Offenbar war José schon eine Weile wach. Er hatte sein Hemd ausgezogen und trug es in der Hand, und etwas befand sich darin; etwas Schweres.

Und als er die Zipfel des Hemds öffnete, ergoss sich ein Wasserfall an Orangen in den Sand. »Ich habe einen ganzen Baum voll gefunden«, sagte er.

Marit nahm eine Orange in die Hand. »Das«, sagte sie, »sind die schönsten Orangen, die ich jemals gesehen habe. Vielleicht liegt es daran, dass sie uns das Leben retten. Solange wir Orangen haben, werden wir nicht verdursten.«

»Fragt sich, wie lange sie ausreichen«, sagte José. »Na, verhungern werden wir auch nicht.« Er fuhr Kurt über den großen weißen Federkopf. »Solange jemand Tintenfische für uns fängt. Wir können sie grillen. Aber zuerst werde ich versuchen, diese Spitze zu suchen, die vor der Insel aus dem Wasser ragt. Die, die auf der Karte eingezeichnet ist. Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich auch den Weg auf der Karte finden. Am Ende dieses Wegs ist das schwarze Kreuz. Vielleicht waren die Männer gestern Nacht nur Einbildung. Aber vielleicht waren sie es nicht. Vielleicht begreife ich, wer sie waren, wenn ich die Stelle mit dem Kreuz finde.«

»Warum sagst du ›ich‹?«, fragte Marit. »Du sagst die ganze Zeit ›ich‹! Willst du denn ganz allein suchen?«

»Ich dachte, du findest es vielleicht lächerlich und dumm, wenn ich suche.«

»Natürlich.« Marit setzte die zerknitterte karierte Mütze ihres Vaters auf. »Es ist lächerlich und dumm. Du wirst keinen Piratenschatz finden und auch keine deutsche Funkstation. Du wirst gar nichts finden. Aber wenn es das ist, was dir wichtig ist – dann helfe ich dir, es zu suchen.«

José ging am Wasser entlang in die eine Richtung und Marit in die andere. Sie hatten beschlossen, sich bei ihrem Lagerplatz wiederzutreffen, wenn die Sonne am höchsten Punkt stand. Die Mitglieder ihres kleinen Zoos schienen ebenfalls die Insel zu erkunden. Chispa war mit den anderen Seelöwen davongeschwommen.

Marit wanderte eine ganze Weile durch die Hitze und ihr Mund klebte vom Saft der Orangen. Der Durst kam schneller wieder, als sie gedacht hatte. Bald, dachte Marit, bald ist die Regenzeit endgültig zu Ende und irgendwann wird es keine Orangen mehr geben.

»Dir reicht der Tau auf den Blättern«, sagte sie zu Carmen, die als Einzige bei ihr geblieben war und in ihrem Ärmel saß. »Aber wir werden jämmerlich vor die Hunde gehen. Und es gibt noch nicht mal Hunde hier.« Sie ließ sich resigniert in den Sand fallen. »Es gibt auch keine Spitze von irgendetwas, die aus dem Meer ragt.« In diesem Moment kam etwas aus dem Wasser und robbte auf sie zu.

»Chispa?«, fragte Marit.

Anstelle einer Antwort schnappte die Seelöwin Marit die Mütze vom Kopf und robbte damit wieder zum Wasser zurück.

»He!«, rief Marit und sprang auf. »Warte! Gib die Mütze her!«

Chispa drehte sich um. »Hol sie doch!«, schien sie zu sagen. »Na los! Du dachtest, ich hätte euch verlassen, aber ich bin zurückgekommen, um mit dir zu spielen.«

Jetzt entdeckte Marit die anderen Seelöwen im Wasser, und sie sah hilflos zu, wie sie begannen, ihre Mütze hin und her zu werfen. Schließlich schwammen sie mit der Mütze zwischen den Zähnen vom Strand weg, albern wie kleine Kinder.

»Nein!«, rief Marit. »Jetzt ist das Spiel zu Ende! Kommt zurück!«

Sie streifte ihre Sachen ab, hörte Carmen im Hemdsärmel empört quieken und rannte den Seelöwen nach, ins Wasser hinein. Es war wunderbar kühl nach der brennenden Sonne. Doch Marit dachte nicht an die Kühle. Sie musste die Seelöwen einholen. Sie hatten den einzigen Gegenstand, der sie mit der Vergangenheit verband. Plötzlich erschien es ihr, als wäre diese alte Schiebermütze das Wichtigste im Leben. Als könnte sie ohne die Mütze niemals herausfinden, wie die seltsamen Stücke ihrer Erinnerung zusammenhingen und welches Geheimnis sie verbargen. Denn etwas verbargen sie, da war Marit sich inzwischen sicher.

Sie sah die Seelöwen untertauchen – und da tauchte auch sie. Unter ihr lag ein Labyrinth aus zerklüfteten Felsen, bewachsen mit Korallen und mit Algenwäldern, die in den Wellen hin und her schaukelten. Bunte Fische schossen dazwischen umher, schwebten reglos im Wasser, schlängelten sich als glänzende Streifen durch das Algengrün … und dann sah sie das Schiff zwischen den Klippen. Es war nur noch die Erinnerung an ein Schiff: ein Grab aus Balken, Tauen und Brettern. Es war um ein Vielfaches größer als die Mariposa, doch es teilte ihr Schicksal. Marit tauchte auf, um Luft zu holen. Josés Urgroßvater fiel ihr ein, der Abuelito, der zur Isla Maldita gefahren und nie zurückgekehrt war. War dies sein Schiff gewesen? Oder das Schiff eines anderen Seefahrers, das auf die Klippen aufgelaufen und gesunken war, in lächerlich geringer Entfernung zum Land?

Es war schwer zu glauben, aber Marit wusste, dass eine Menge der Seeleute damals nicht hatten schwimmen können. Irgendwo hier hatte jemand um sein Leben gekämpft und vielleicht verloren. Und sie machte sich Sorgen um eine dumme Mütze.

Sie sah sich nach den Seelöwen um, und da waren sie, verspielt wie zuvor. Marit folgte ihnen in einem weiten Bogen zurück an Land. Dort ließ einer von ihnen Marits Mütze in den Sand fallen. Sie hätte sich die ganze Mühe sparen können.

Aber als sie die Mütze auswrang, wusste sie es plötzlich. Sie wusste, was die Spitze bedeutete, die auf Josés Karte aus dem Wasser ragte. Das gesunkene Schiff war lange gesunken, ehe Josés Großvater die Isla Maldita erreicht hatte. Es war schon gesunken, ehe die Karte gezeichnet worden war. Damals hatte das Wrack noch aus den Wellen geragt.

Hier, genau hier begann der Weg zum schwarzen Kreuz auf Josés Karte.