Выбрать главу

»Bist du sicher, dass es hier war?«, fragte José zwei Stunden später.

Marit nickte. »Aber schwimm ruhig raus und sieh dir die Reste des Wracks selbst an.«

Er schüttelte den Kopf. »Lass uns lieber die Reste des Weges finden.«

Sie gingen von der Stelle aus, an der Marit das gesunkene Schiff entdeckt hatte, auf einer möglichst geraden Linie landeinwärts. Dort, wo die niedrigen Büsche begannen, saß eine stumme Riesenschildkröte. Sie hatte Kopf und Beine eingezogen und schien zu schlafen.

»Vielleicht ist das ein Zeichen«, meinte José mit einem nervösen Lachen. »Sie bewacht den Anfang des Weges.«

Marit kniete sich hin und sah sich die Schildkröte genauer an. »Der Panzer ist leer«, sagte sie. »Diese Schildkröte ist seit Jahren tot. Oder seit Jahrzehnten. Vielleicht ist es tatsächlich ein Zeichen.«

José hielt sich die Karte dicht vor die Augen. »Hier steht eine Zahl. Zweihundert. Nach der Zahl biegt der Weg links ab. Zweihundert Meter?«

»Wer auch immer die Karte gemalt hat«, sagte Marit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit einem Maßband unterwegs war. Versuchen wir es mit zweihundert Schritten.«

Sie kam sich lächerlich vor, während sie sich laut zählend mit José durchs Gebüsch kämpfte. Bunte Vögel flogen kreischend auf, gelbe Landleguane verschwanden raschelnd im Unterholz.

»Sie müssen uns für völlig verrückt halten«, murmelte Marit. »Hundertneunundneunzig … zweihundert. Hier müssen wir abbiegen. Ist hier irgendetwas? Etwas, das die Abbiegung kennzeichnet?

Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. Zweihundert Schritte waren nicht das Gleiche wie zweihundert Schritte. Sie konnten sich in der Schrittlänge geirrt haben. Oder ein wenig von der Richtung abgewichen sein …

»Da!«, sagte José. Marit folgte seinem Blick.

Ein Stück entfernt lag ein weiterer Schildkrötenpanzer. Und sie brauchte sich nicht davorzuknien, um zu wissen, dass er leer war. Sie bogen bei dem Panzer nach links ab, der Boden stieg jetzt an und eine weitere winzig hingekritzelte Zahl schickte sie mehrere Hundert Schritte aufwärts. Dort gab es noch einen Panzer, noch eine Zahl … und endlich führte die Karte sie zwischen glatten, abschüssigen Felsen hinauf. Der Weg mit seinen Biegungen ergab einen Sinn, zur Rechten und zur Linken hätte es keine Möglichkeit gegeben weiterzukommen.

»Jemand hat sich eine Menge Mühe gemacht, diesen Weg zu kennzeichnen«, flüsterte José. »Aber es ist keine besonders unauffällige Kennzeichnung.«

»Nein«, sagte Marit nachdenklich. »Und keine besonders nette. Er hat eine Menge Schildkröten getötet.«

Sie wanderten schweigend von Panzer zu Panzer, es war, als besuchte man einen Schildkrötenfriedhof, weit verteilt über die Insel. Sie wanderten lange, lange. Der Wald umschloss sie jetzt von allen Seiten mit seinen dichten grünen Mauern, Lianen woben sich ins Unterholz und große weiße und violette Blüten verströmten ihren Duft in schwindelnder Höhe. Die Sonne brannte nicht mehr auf sie herab, doch die Luft stand still und feuchtwarm zwischen den Stämmen. Marit sah auf ihre nackten Füße, die Josés Füßen durchs Unterholz folgten, weiter und weiter … und schließlich, nach einer Ewigkeit, blieben diese Füße stehen.

»Sieh nur!«, sagte José. »Hier sind auf der Karte zwei Kringel. Ich dachte, es wären die Nullen einer Zahl. Aber es sind keine Nullen.«

Marit hob den Kopf: Zur Linken des Weges klafften zwei annähernd runde schwarze Löcher im Fels.

»Höhlen«, sagte José. »Piratenhöhlen.«

Sie nickte. Ihre Augen vermochten das schwarze Dunkel in den Höhlen nicht zu durchdringen. Ein muffiger, dumpfer Geruch strömte ihnen von dort entgegen, der Geruch von Erde und Kälte und Vergangenem.

»Ein guter Unterschlupf«, sagte José. »Man hätte ein Dach über dem Kopf. Und schau, da steht ein Guavenbaum.«

Marit nahm die runde grüne Frucht, die er ihr reichte: eine Guave. Sie hatte noch nie eine Guave gegessen. Die dunkelgrüne Kugel verströmte einen seltsam heimeligen Geruch nach Gallseife und Kiefernwald. Marit biss hinein. Sie schmeckte auch nach Gallseife und Kiefernwald. Sie aß sie dennoch, dankbar für die wenige Flüssigkeit in ihrem festen grünen Fleisch. Und dann entdeckte sie eine Nische in der Wand der ersten Höhle, mit grobem Werkzeug vor langer, langer Zeit behauen: eine kühle steinerne Bank.

Am einen Ende der Bank war eine Vertiefung in den Stein geschlagen worden, etwas wie ein flaches Becken. Ein flaches Becken, das das Regenwasser fing. Marit war mit zwei Schritten bei dem Becken und streckte die Hand hinein – es war leer. Vielleicht war Wasser darin gewesen und die Hitze des Tages hatte es verdunsten lassen oder ein Tier hatte es getrunken. Sie ließ sich auf die Bank fallen. Es war, als hätten die Hoffnung auf Wasser und die Enttäuschung ihr die letzte Kraft genommen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, sie könnte nie, nie wieder von dieser Steinbank aufstehen.

José stand über die Karte gebeugt. »Wenn dies hier also keine Nullen sind«, sagte er zögernd, »dann … dann sind es noch hundert. Hundert Schritte geradeaus, danach rechts und noch einmal fünfzig Schritte. Dann sind wir dort, wo auf der Karte das schwarze Kreuz ist.« Er musterte Marit. »Soll ich allein gehen? Willst du hier warten?«

»Nein«, flüsterte sie. »Nein, ich gehe mit. Ich habe die ganze verdammte Reise nur gemacht, um dir zu helfen, dieses Kreuz zu finden.«

José zog sie hoch. »Komm«, sagte er. Aber sie gingen jetzt langsam. Und es lag nicht nur an ihrer Erschöpfung.

Es war ein seltsames Gefühl, so nahe am Ziel zu sein. Da segelte man tage- und nächtelang über den Pazifik, floh vor dem Feuer, überlebte Stürme, ließ sich auf einem Floß ans Ufer treiben – und plötzlich sollte das Ende der Reise nur noch wenige Schritte entfernt sein.

Der letzte leere Schildkrötenpanzer besaß einen Sprung wie eine Schale, die jemand hatte fallen lassen. Als sie sich bei dem Panzer nach rechts wandten, standen sie noch immer in dichtem Wald. Aber dieses Stück Weg schien Marit breiter. Als würde es noch benutzt. Sie sah keine Spuren, die Erde war trocken und krümelig, und doch –

»José«, flüsterte sie. »Warte! Was … was glaubst du, was ist es? Das Ziel? Das schwarze Kreuz?«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht ist es nur eine Stelle, an der man graben muss. Vielleicht ist es eine Erklärung dafür, weshalb man auf der Isla Maldita Stimmen hört und Fackeln sieht. Vielleicht treten dort irgendwelche Dämpfe aus der Erde. Oder vielleicht … vielleicht finden wir trotz allem einen Funkmast der Deutschen.«

»Den«, sagte Marit, »hätten wir inzwischen wohl über die Bäume gesehen.«

Die allerletzten Schritte machten sie so langsam, als trügen sie Schuhe mit Blei in den Sohlen.

Marit merkte erst, dass sie sich an den Händen gefasst hatten, als sie das Zittern in Josés Hand spürte. Und dann traten sie aus dem Wald auf eine winzige Lichtung, auf der spärliches Gras wuchs. Der Boden war ausgetreten von Hufen und Pfoten, Marit sah die Abdrücke hier deutlich. Aber es war nichts da. Ein paar Felsen hatten sich am anderen Ende der Lichtung versammelt wie versteinerte Riesenschildkröten. Sie gingen zu den Felsen hinüber. Die Felsen säumten etwas. Ein Versteck.

Erst als sie ganz nahe standen, sahen sie, was es war:

Zwischen den Steinen lag eine blanke, spiegelglatte, glänzende Fläche. Nur an einer Stelle störte eine Bewegung ihre Glätte. Dort rann etwas den Felsen hinab, rann aus einem Spalt weiter oben.

»Wasser«, sagte José verblüfft. »Es ist Wasser. Das schwarze Kreuz auf meiner Karte … ist eine Quelle.«

Lied der Riesenschildkröte

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren

kroch ich schon übers Lavagestein.

Vor tausend und tausend mal tausend Jahren,

als die Menschen noch Kinder waren,